50 Jahre und kein bisschen weiter?

Am 23. Januar 1973, einem trübkalten Dienstag, um 08.30 Uhr fand in der Schweiz ein Staatsstreich statt – mehr oder weniger unfreiwillig, von der Öffentlichkeit kaum beachtet, und nur als provisorisch gedacht. Putschistin contre coeur war die Schweizerische Nationalbank. Nach kurzer Rücksprache mit dem Bundesrat teilte sie den Banken mit, dass sie “heute darauf verzichtet, ihre Interventionen am Dollarmarkt aufzunehmen. Sie wird sich vom Markte fernhalten, bis eine Beruhigung eingetreten ist.” 

Die Nationalbank zog damit die Notbremse: Die Notenbankgeldmenge hatte allein am Vortag um fast vier Prozent zugenommen; dies bei einer Inflationsrate von bereits über sieben Prozent pro Jahr. Sie wollte deshalb den Kurs des amerikanischen Dollars vorläufig nicht weiter durch Dollarkäufe stützen, zumal Präsident Nixon schon 1971 den Dollar vom Gold abgekoppelt hatte.

Indem die SNB die Fessel der vom Bundesrat festgelegten Goldparität (und – indirekt – Dollarparität) sprengte, mutierte sie – salopp gesprochen – von einem passiven Währungskiosk zu einer mündigen Notenbank. Sie übernahm erstmals in ihrer Geschichte die Kontrolle über die von ihr geschaffene Geldmenge. 

Die anderen Europäischen Notenbanken folgten der Pionierin kurz darauf und lösten ihre eigenen Währungen vom Dollar. Dies bedeutete, wie im Artikel von Thomas Fuster in der gestrigen NZZ nachzulesen ist, das Ende der Währungsordnung von Bretton-Woods (an der die Schweiz offiziell nicht einmal beteiligt war).

Aus dem “vorläufig” wurde ein “dauernd”: So begann im Januar 1973 das Zeitalter der flexiblen Wechselkurse – der Verantwortung der Nationalbank für Inflation oder Deflation. Die Währungen der wichtigen Länder wurden zu FIAT-Money, zu Geld, das allein in der Hand der einzelnen Notenbank liegt.

Der Ausstieg aus der Dollar-Parität bedeutete auch das Ende der Finanzierung von Staatsdefiziten (konkret: der Kosten des Vietnamkriegs und der amerikanischen Sozialpolitik) durch die Notenbanken der Partnerländer. Den meisten Notenbanken gelang es in der Folge, ihre Politik am Ziel der Preisstabilität auszurichten und von den Finanzbedürfnissen des Staates zu lösen.

Doch knapp vierzig Jahre später stand das FIAT-Geld auf dem Prüfstand. In der Finanzkrise von 2007-08 und der darauffolgenden Eurokrise von 2011 mussten die FIAT-Währungen beweisen, dass sie die Wirtschaft vor einem Absturz in die Deflation bewahren können – anders als das “barbarische Relikt” des Goldes in den 1930er Jahren. Dies gelang eindrücklich, doch wie die Katze durch den offenen Türspalt, schlich sich eine alte Bekannte ein: Die Finanzierung von Staatsdefiziten durch die Notenbanken.

Im Juli 2012 versprach der Präsident der Europäischen Zentralbank (EZB), Mario Draghi, alles zu tun, was es brauchen würde, um den Euro zu retten. Dazu musste er den Anstieg der Risikoprämien auf italienische und griechische Staatsanleihen auf unbezahlbare Höhen wieder rückgängig machen. Er übersetzte “FIAT money“ von “Es werde Geld” in “Es werde beliebig viel Geld”. Draghi löste damit die Ankerleine des Euro, genauso wie der amerikanische Präsident Nixon 1971 den goldenen Anker des Bretton-Woods-Systems versenkt hatte. 

Mit seinem “all in” hat Präsident Draghi seine riskante Wette fürs erste gewonnen: Der Euro überlebte vorerst ohne Austritte. Doch ob die EZB und die anderen Notenbanken aus dem Gravitationsfeld der Staatsschulden wieder auf einen konsequenten Kurs der Preisstabilität zurückfinden werden, scheint 50 Jahre nach 1973 – mit viel grösseren Staatsschulden und mit viel grösseren Geldmengen als damals – noch offen. Die damals errungene Autonomie muss erneut verdient werden.

Auch dieser Beitrag beruht auf dem “Das Einmaleins des Geldes” (hep-Verlag, Sommer 2023)

20 Jahre Euro — live auf Youtube

Urs Birchler

Bei der Banque de France findet heute und morgen eine SUERF-Konferenz zum zwanzigsten Jarestag der Einführung des Euro statt. Die Konferenz wird live auf Youtube übertragen. Auf der Rednerliste die erste Garde:

Heute, Do 28. März, ab 13:40 (Youtube):

  • Christine Lagarde, Managing Director, International Monetary Fund (IMF)
  • François Villeroy de Galhau, Governor, Banque de France
  • Laurence Boone, Chief economist, Organisation of Economic Cooperation & Development (OECD)
  • Agustin Carstens, General Manager, Bank for International Settlements (BIS)
  • Richard Clarida, Vice Chairman, Board of Governors of the Federal Reserve System
  • Pascal Lamy, former President, World Trade Organisation

Morgen, Fr 29. März, ab 9:00 (Youtube):

  • Hélène Rey, Professor, London Business School
  • Lorenzo Bini Smaghi, Chairman, Société Générale
  • Benoît Coeuré, Member of the Board, European Central Bank
  • Gita Gopinath, Chief Economist, IMF
  • Lucrezia Reichlin, Professor, London School of Economics
  • Jean Tirole, Nobel Prize in economics, Professor, Toulouse School of Economics

Daneben gibt es Poster Sessions mit Arbeiten jüngerer Ökonomen/innen, unter denen auch der Marjolin-Preis vergeben wird.

Schuldenbremse — Schweiz besser als EU-Länder

Urs Birchler

Um die Schuldenbremse kümmert sich bei batz.ch normalerweise Marius Brülhart. Er hat kürzlich hier argumentiert, dass die Schweizer Schuldenbremse sogar einen leichten Zug rückwärts, in Richtung Schulden-Abbau, beinhalte.

Genau umgekehrt ist es in der EU, wie die Vitor Gaspar (Chef Fiscal Affairs beim IMF und früherer Finanzminister Portugals) and David Amaglobeli (ebenfalls IMF, früherer Gouverneur der Zentralbank von Georgien) in einer soeben erschienenen SUERF Policy Note zeigen. Die verschiedenen Ausgaben- oder Schuldenregeln in den einzelnen Ländern sind zwar nicht ganz wirkungslos, haben aber immer noch einen Zug in Richtung höherer Verschuldung. Hauptgrund: Die EU-Länder haben kaum Sanktionen zu befürchten. Wer soll schon den ersten Stein werfen: Es gab in den Jahren 1999-2016 nicht weniger als 37 Regelverstösse. Im Schnitt waren in jedem Moment fast 50 Prozent der Mitgliedländer in der Verstoss-Zone. Bemerkenswert: Die Euro-Staaten (die mindestens seinerzeit die Maastricht-Kriterien erfüllt hatten) schnitten seit der Finanzkrise deutlich schlechter ab als die Nicht-Euro-Mitglieder.

Falsch verstandene Unabhängigkeit der SNB

Urs Birchler

Es ist heiss, auch in den Redaktionsstuben. Daher ist sowohl der NZZ als auch die Sonntagszeitung je ein Beitrag zur Unabhängigkeit der SNB entschlüpft, der in kühleren Zeiten im Papierkorb gelandet wäre.

Ganz arg die NZZ: Der Autor Michael Rasch verwechselt Unabhängigkeit mit Allmacht. Und letztere liege in der Hand „nicht-gewählter“ Notenbanker.

„Der Blick ins Gesetzt erleichtert die Rechtsfindung“, spotten die Juristen. Und tatsächlich hätte das Notenbankgesetz (NBG) Herrn Rasch beruhigen können:

Art. 5 hält nämlich fest: „Die Nationalbank … gewährleistet die Preisstabilität.“ Damit ist der Pfad der Geldpolitik weitgehend gegeben. Die SNB ist statt ans Gold (wie bis 1936) oder den Dollar (bis 1973) an einen Güterkorb gebunden. Zugegeben: Die SNB hat kurzfristig ein bisschen mehr Flexibilität als dies unter festen Wechselkursen oder unter der Goldparität der Fall war. Doch von Allmacht keine Rede.

Die SNB-Leiter seien „Technokraten, die nie vom Volk gewählt worden sind“, bemängelt Herr Rasch. Dass die Leute bei der SNB ihr technisch anspruchsvolles Metier verstehen, hat bisher nicht geschadet. Vor allem aber werden die Mitglieder der Leitungsgremien der SNB durchaus gewählt, und zwar nach fein austarierten und demokratisch zäh ausgehandelten Regeln. Nur werden Notenbankleiter — ebensowenig wie Bundesräte — nicht direkt vom Volk gewählt, was aber m.W. weltweit noch nie jemand ernsthaft vorgeschlagen hat. Auch die laufende Politik der SNB steht nicht im politischen Vakuum: Die SNB erörtert ihre Politik regelmässig mit dem Bundesrat und informiert ebenso regelmässig Parlament und Öffentlichkeit (Art. 7).

Dass die Unabhängigkeit der Notenbank „einer Demokratie ohnehin wesensfremd“ sei, hat Herr Rasch vielleicht in einer venezolanischen oder türkischen Regierungsbroschüre gelesen. Unabhängigkeit helvetischer Prägung bedeutet, dass „die Nationalbank und die Mitglieder ihrer Organe weder vom Bundesrat noch von der Bundesversammlung oder von anderen Stellen Weisungen einholen oder entgegennehmen“ (Art. 6). Auch Sommerfantasien des Finanzministers hat die SNB also zu ignorieren (zu dessen Ehrenrettung: Er hat vielleicht bei seiner kürzlichen Bemerkung nicht daran gedacht, dass die Länge der SNB-Bilanz der Fussabdruck der Geldpolitik ist).

Die Sonntagszeitung beklagt nicht ein Übermass an Unabhängigkeit der SNB, sondern umgekehrt grade einen Mangel an Unabhängigkeit. Grund: Die SNB kann den Franken nicht beliebig gegenüber dem Euro erstarken lassen. Das ist nicht falsch, aber wir wissen es seit Jahren, und niemand hat ein Rezept gefunden, wie es die SNB anders machen könnte, ohne die Schweizer Wirtschaft zusammenzuschlagen. Auch dies steht nämlich im NBG (Art. 5): „Die Nationalbank führt die Geld- und Währungspolitik im Gesamtinteresse des Landes.“ Und bei der Gewährleistung der Preisstabilität „trägt sie der konjunkturellen Entwicklung Rechnung.“ Kurz: Die Länge ihrer Bilanz belastet die SNB selbst wohl mehr als alle andern. Auch noch, wenn es wieder kühler wird.

EU: mehr Solidarität oder mehr Disziplin?

Urs Birchler

Die Schweiz leidet — via Frankenstärke — seit Jahren an den Spannungen innerhalb der Eurozone und der EU. Der Konflikt innerhalb der EU wird oft dargestellt als Mangel an Solidarität (des Nordens) versus Mangel an fiskalischer Verantwortung (des Südens). Dass zwischen den beiden eher eine politische Komplementarität besteht als ein „Entweder-Oder“, hat kürzlich Jeroen Dijsselbloem (der frühere Chef der Euro-Gruppe) dargestellt. Sein Text wurde als SUERF Policy Note abgedruckt. Das Fazit hier im Original:

To sum up. Do not blame the EU for all problems we have. The responsibility of the member states is huge. The EU will not solve all your problems via more centralized policy and stronger institutions. Major structural reforms are still needed at national level. The EMU must become a value community. This implies more solidarity between member states and more responsibility from member states. The one goes hand in hand with the other.

Die Euro-Hintertür

Urs Birchler

Die NZZ berichtet, dass im Euro-Zahlungssystem TARGET die Guthaben (Deutschlands) und die Schulden (v.a. Spaniens und Italiens) auf 880 Mrd. Euro angeschwollen sind. Diese Target-Salden werden seit längerem diskutiert und dank den Bemühungen von Hans-Werner Sinn auch als Problem anerkannt.

Die NZZ erwähnt den Lösungsvorschlag in Form einer Parallelwährung zum Euro wie die Moneta Fiscale. Dabei handelt es sich um staatlich ausgegebene Gutscheine, die zur Bezahlung von Steuern angerechnet werden. Der im Artikel erwähnte italienische Finanz-Ökonom Marco Cattaneo hat dazu verschiedene Beiträge in seinem Blog geschrieben und mit Ko-Autoren ein Buch veröffentlicht.

In aller Bescheidenheit sei nachgetragen, dass batz.ch bereits vor fünf Jahren in einem Beitrag zu Griechenland die Idee der Steuergutscheine beschrieben hat als Möglichkeit, aus dem Euro auszusteigen, ohne ihn offiziell zu verlassen. Als Empfehlung waren die staatlichen kouponi nicht gemeint, denn der Verkauf von Steuergutscheinen heute geht auf Kosten der Steuereinnahmen von morgen. Dannzumal wird der Schatzkanzler wie in Goethes Papiergeldszene klagen: „…und auf den Tisch kommt vorgegessen Brot.“

Brexit: Dritter Weg?

Urs Birchler

Eine umfassende und dennoch konzise Zusammenstellung der Vor- und Nachteile eines britischen Austritts aus der EU hat mein Kollege David Llewellyn als SUERF Policy Paper geschrieben.

Darin entwirft er auch ein (gar nicht so unrealistisches) drittes Szenario: Eine Ablehnung gefolgt von verstärkten Versuchen des UK, zusammen mit anderen Staaten die EU von innen zu verändern. Die Exit-Option würde als Drohung weiterhin bestehen und wie viele Optionen ist sie lebendig wohl mehr wert als tot.

Für die Schweiz würde die britische Revolte von innen bedeuten, dass die EU innenpolitisch so beschäftigt wäre, dass niemand Zeit (und schon gar keine Lust) hat, gross auf helvetische Befindlichkeiten einzugehen.

Geldreform — Weltreform

Urs Birchler

Foto2

Am Dienstagabend gab ich an der Uni Zürich meine Abschiedsvorlesung. Inhalt: Geldreformen, die gleichzeitig als Weltreformen gedacht waren oder sind: Corvaja’s Bankokratie, Gesell’s Freiwirtschaft, die Vollgeldinitiative, der Euro. Fazit: Der Versuch, über das Geld die Welt zu erneuern, ist zum Scheitern verurteilt. Im schlimmsten Fall gehen dabei sowohl das Geld kaputt, als auch die angestrebte neue Welt. Bestes Beispiel: der Euro. Der Versuch, Europa via Gemeinschaftswährung zur Einheit zu zwingen, hat den Euro und die Einheit untergraben.

Die Vorlesung kann auf der Homepage des IBF hier oder hier als Video abgerufen werden.

Zusätzlich hat Klaus Ammann von Radio SRF ein wohlgesonnenes (danke!) Interview gemacht und in Echo der Zeit gesendet.

Ich danke nochmals allen, die gekommen sind und Ihre Zeit mit mir geteilt haben!

Leben ohne Banken

Urs Birchler und Inke Nyborg

Egal wie die Abstimmung heute ausgeht – in Griechenland sind die Banken geschlossen, und Bargeld ist knapp. In einer ähnlichen Situation war Irland in den 1970er Jahren wegen anhaltender Streiks. Die Iren wussten sich jedoch zu helfen. Sie zahlten mit Checks. Damit die Leute nicht einfach Checks ausstellen können, die über ihre Zahlungsfähigkeiten hinausgehen, braucht es jedoch einen Aufpasser, der an die Stelle der Bank tritt. In Irland war dies der Inn-Keeper. Die Pubs (die ihre Kunden recht gut kennen) übernahmen die Rolle einer Clearing-Stelle, und die Wirtschaft kam einigermassen über die Runden. Dies ist nachzulesen in der Financial Times und im Buch Money: The Unauthorised Biography (2013, S. 20ff.) von Felix Martin.

Wehe dem, der keine Stammbeiz hat!

Nix Grexit

Urs Birchler

Griechenland kann nicht mehr zahlen. Verschiedene Beobachter rechnen daher mit einem „Grexit“, einem Austritt Griechenlands aus der Euro-Zone. Dabei übersehen sie die hohen rechtlichen Hürden. Unter Überschreitung der Kompetenzen des Autors ein kurzer Blick auf die Rechtslage:

  1. Ein Austritt aus der EU (und daher aus dem Euro) ist möglich durch einseitige Erklärung eines Landes, die nach zwei Jahren in Kraft tritt.
  2. Eine Neuverhandlung des EU-Mitgliedschaftsvertrags ist möglich. Der neue Vertrag müsste aber von allen Mitgliedstaaten der EU (nicht nur jener der Euro-Zone!) ratifiziert werden.
  3. Ein Austritt aus dem Euro-Verbund:
    • freiwillig: ist ohne Austritt aus der EU nicht möglich.
    • unfreiwillig (Herauswurf): ist nicht möglich.
  4. Eine Parallelwährung:
    • in Form einer echten Parallelwährung (z.B. Rückkehr zur Drachme) ist möglich, führt aber zu einer Prozesslawine.
    • in einer verkappter Form (z.B. Gutscheine des Staates, die auf Euro lauten) scheint kein EU-Recht zu verletzen, höchstens nationales Recht (z.B. im Verhältnis Regierung-Notenbank; Arbeitsrecht).

Fazit: Grexit-Szenarien sind tägliche Adrenalinhäppchen für Zeitungsleser, aber schon aus rechtlichen Gründen (nicht zu reden von den organisatorischen und ökonomischen Problemen) irrelevant. Was wirklich geschehen wird: Griechenland zahlt seine internationalen Schulden nicht, versucht primär inländische Verpflichtungen (Löhne, Renten; indirekt auch Einlagen der Banken) zu honorieren und bleibt im Euro, mindestens pro forma.

Quellen: