Warum die Niederländer gegen die EU gestimmt haben

Urs Birchler

Ich war heute früh zunächst verbaasd (NL: erstaunt), dass die Holländer gegen das Assoziationsabkommen mit der Ukraine gestimmt haben. Ein Stunde später erreicht mich ein Bescheid der Schiffahrtsbehörde des Kantons Zürich betreffend meinem Segelboot, welches auf allen anderen Schweizer Seen (und in mindestens einem Exemplar auch auf dem Zürichsee) für 6 Personen zugelassen ist.

Sehr geehrter Herr Birchler,
Ihr Antrag haben wir geprüft und stellten fest, dass der Schiffsausweis mit 4 Personen, laut Herstellerangaben, korrekt ausgestellt wurde. Es ist richtig, dass es andere [Boote dieser Klasse] gibt mit einer maximalen Personenzahl von 6, dies sind aber Boote die älter sind und nach Binnenschifffahrtsverordnung als Vergnügungsschiffe inverkehrgesetzt wurden. Ihr Boot ist aber ein Sportboot und wird nach der Eu – Sportbootrichtlinie geprüft und zugelassen, deswegen kriegen sie eine maximale Personenzahl von 4 Personen wie der Hersteller auf der Konformitätserklärung angibt.

Wir wünschen ihnen eine angenehme Saison.

freundliche Grüsse
x.y.

Dass Sport und Vergnügen (gerade für ältere Kapitäne) nicht dasselbe sind, weiss ich jetzt auch. Dass die EU-Richtlinie eigentlich in der Absicht erlassen wurde, den Handel mit Booten zu liberalisieren, nützt dem Vergnügungssportler Birchler allerdings wenig. Der Schweizer Nachvollzugs-Bürokratie wünsche ich mit altem Seglergruss Mast- und Wantenbruch.

Steckt unser Geld in der Falle?

Urs Birchler

Am Tag, als die Nationalbank Negativzinsen auf ihren Girokonti einführte, schrieb ich hier naiv, allzu negativ könnten die Zinsen nicht werden. Sonst würden die Banken ihre Giroguthaben lastwagenweise in bar bei der SNB abholen. Jedoch: so klar ist dies anscheinend nicht.

These: Die Zürcher Privatdozentin Corinne Zellweger-Gutknecht argumentiert in der ZfPW (3/2015, S. 350-375), dass gemäss Währungs- und Zahlungsmittelgesetz (WZG) aus dem Jahre 2000 die Giroguthaben der Banken bei der SNB (gegenüber den Inhabern von Girokonti) gesetzliche Zahlungsmittel sind. Im Klartext: Weiterlesen

Eigenmittelvorschriften: Gift für die Banken?

Urs Birchler

Ex-NZZ Wirtschaftschef Beat Gygi behauptet in der Weltwoche (11.2.2016, S. 22), die Eigenmittelvorschriften seien schuld am relativen Misserfolg der Schweizer Banken (ähnlich, wie wenn die Geschwindigleitslimiten schuld wären an den Unfällen auf der Strasse). Jeder Eigenmittelfranken koste die Bank 10 Rappen.

Diese Zahl ist nicht nur frei erfunden. Sie ist auch falsch. Das Argument, dass Eigenmittel teuer sind, ist längst widerlegt. Weiterlesen

Bargeld verbieten?

Urs Birchler

Die Feinde des Bargelds sind im Vormarsch. Dies ist zumindest der Eindruck, den man als regelmässiger Zeitungsleser erhält. Die NZZ allein hat in den letzten Tagen viermal über Initiativen zur Einschränkung oder Abschaffung von Banknoten berichtet, z.B. hier, hier, hier und hier.

Die Thematik ist zugegebenerweise komplex. Genug Grund, auf ein Übersichtspapier hinzuweisen, das Christian Beer, Ernest Gnan und ich als SUERF Policy Note geschrieben haben (mit Kurzfassung hier).

Auch bei batz.ch haben wir schon mehrmals über die Bargeld-Kontroverse berichtet: Bargeld abschaffen?, Freispruch für Bargeld und dazu Folge 2. Die letzteren beiden Beiträge beziehen sich auf einen theatralischen Schauprozess.

Natürlich steht es jedem frei, Bargeld als Instrument des Verbrechens oder als Säule der Freiheit zu sehen. Zur Versachlichung der Diskussion wären die hier zitierten Beiträge aber vielleicht hilfreich.

[Bei meinem gegenwärtigen Wissensstand neige ich eher dem freiheitlichen Lager zu.]

Vollgeld: Louisiana 1842

Urs Birchler

Die Vollgeld-Idee wurde in der Praxis bereits einmal erprobt. Und das kam so: Die USA erlebten 1837 (nachdem die Charter für die Zentralbank, die Second Bank of the United States, nicht erneuert worden war) eine schwere Wirtschafts- und Bankenkrise. In der Folge zog sich der Bundesstaat aus der Bankenregulierung zurück, und die einzelnen Staaten gingen in der Gesetzgebung getrennte Wege. New York ging über zum Free Banking, einem im wesentlichen nicht-regulierten Bankwesen, samt Ausgabe von Banknoten durch die privaten Banken. Indiana erlaubte Bankgeschäfte nur einer Staatsbank. Texas und Iowa verboten Banken überhaupt.

Einen Mittelweg wählte Louisiana mit der Banking Act von 1842. Banken wurden verpflichtet, ihre ausgegebenen Banknoten plus Depositen voll zu unterlegen mit (a) Bargeld (mindestens zu 1/3) und (b) Papieren mit Laufzeit von maximal 90 Tagen (für die übrigen 2/3). Diese Papiere durften bei Fälligkeit auf keinen Fall erneuert werden, damit keine Kurzfristigkeit vorgegaukelt werden konnte. Der liquide Teil der Bilanz hiess Movement, der langfristige Teil Dead Weight.

Das System, das dem Vollgeld (mit Silber anstatt Guthaben bei einer Zentralbank) also recht nahe kam, wurde unter dem Namen seines Erfinders Edmund J. Forstall bekannt als Forstall-System. Näheres findet sich in einem Artikel des Bankenhistorikers Bray Hammond von 1942. Das System bewährte sich nicht schlecht: In der Krise von 1857 mussten die Banken in anderen Staaten ihre Schalter schliessen — nicht aber in Louisiana.

Wie sehr sich die Erfahrung mit dem Forstall-System verallgemeinern lässt, ist umstritten. Louisiana war mit dem weltweit viertgrössten Handelshafen New Orleans auch Umschlagplatz für mexikanisches Silber, wodurch die Banken ohnehin eher liquid waren. George D. Green weist in Finance and Economic Development in the Old South: Louisiana Banking, 1804-1861 von 1972 auf einen besonders interessanten Punkt hin: Louisiana blieb vom Bankenkrach vielleicht nicht in erster Linie deshalb verschont, weil das „Vollgeld“ in der Krise die Banken stärkte, sondern weil es die Banken (aufgrund der strengen Liquiditätspflicht) bereis im vorangegangenen Boom an übermässigem Kreditwachstum gehindert hatte.

Nach dem Bürgerkrieg inspirierte Louisiana auch die Bankengesetzgebung von New York und Massachussets; indirekt sogar die spätere Bankengesetzgebung auf Bundesebene und die Gesetzgebung bei der Errichtung des Fed.

Vollgeldinitiative für Anfänger

Urs Birchler

Am 1. Dezember werden die Initianten die Vollgeldinitiative mit den notwendigen 100’000+ Unterschriften einreichen. Damit steht der Souverän vor der wichtigsten Entscheidung über unsere Geldordnung seit langem, wahrscheinlich seit der Ablehnung der Freigeldinitiative im Jahre 1951. Höchste Zeit also, sich mit der Initiative auseinanderzusetzen. Hier ein erster Schritt. Er ist für Anfänger gedacht, zu denen ich mich einstweilen selber zählen muss. Es ist nämlich nicht immer ganz klar, was sich hinter dem Initiativtext genau verbirgt.

Die Initiative besteht, grob gesprochen, aus drei Teilen (Initiativtext):

  1. Monopol der SNB zur Geldschöpfung.
  2. Geldausgabe der Nationalbank direkt an Bund/Kantone oder an Bürgerinnen und Bürger.
  3. Übergangsbestimmungen.

Heute versuche ich, den ersten Punkt zu darzustellen. Die SNB hat bereits bisher die Aufgabe, Geld zu schaffen, konkret: Banknoten zu drucken und für die Banken Buchgeld-Konti (die sogenannten Giroguthaben) zu führen. Die Giroguthaben dienen den Banken als Zahlungsmittel im bargeldlosen Zahlungsverkehr untereinander und mit der übrigen Wirtschaft.

Bilanz_vorher

Zusätzlich aber können bisher auch die Banken Geld schöpfen. Dies sei an einem einfachen Beispiel erläutert. Nehmen wir an, Bank A habe 160 Fr. investiert, davon 10 Fr. bei der SNB als SNB-Geld (Noten oder Giroguthaben) und 150 Fr. als Kredite an die Wirtschaft. Die gewährten Kredite haben die Schuldner ihrerseits einstweilen wieder bei Bank A angelegt: 100 Fr. als kurzfristige Einlagen, 50 Fr. langfristig, z. B. in einer 10-Jahres-Obligation der Bank.

Da kurzfristige Bankeinlagen von anderen Banken und in der übrigen Wirtschaft als Zahlungsmittel akzeptiert werden, stellen sie wirtschaftlich gesehen „Geld“ dar. Die Banken haben gleichsam „Geld geschaffen“. Sie könnten dies allerdings nicht ohne die Komplizenschaft (a) der Einleger, die solche Einlagen halten wollen und (b) der übrigen Wirtschaft, die eine Zahlung in Buchgeld einer Bank anstatt in SNB-Geld gelten lässt.

Die Bank versucht also einen Spagat zwischen Kreditnehmer und Einleger. Die Kreditnehmer erhalten längerfristiges Geld, die Einlager behalten eine kurzfristige Anlage, mit der sie sogar bezahlen können. Diese Leistung der Banken an die Wirtschaft ist aber gleichzeitig ihre Achillesferse.

Sobald die Depositen bei einer Bank nicht mehr als Zahlungsmittel angenommen werden oder sobald die Einleger der Bank nicht mehr vertrauen, kommt es zu Abzügen. Die Einleger wollen ihre Banknoten zurück. Bank A wäre aber nicht fähig, diese Wünsche zu erfüllen, da sie das bei der Annahme der Einlagen erhaltene Geld nicht in bar in der Kasse liegen hat, sondern eben an ihre Kreditnehmer ausgeliehen hat. Die Bank wäre bei geballten Rückzügen also illiquid; es käme zu einer Finanzkrise.

Bilanz_nachrher Hier setzt die Vollgeldinitiative an. Sie will den Banken die Geldschöpfung verbieten. Eine Bank müsste (nach meiner Interpretation des Initiativtextes) den Gegenwert ihrer Einlagen vollumfänglich in Form von SNB-Geld halten. Gleichzeitig müssten diese Einlagen und ihr Gegenposten in Form von SNB-Geld ausserhalb der Bilanz und der Konkursmasse der Bank geführt werden. Die Bank würde also (konzeptionell oder tatsächlich) zweigeteilt. Ein Teil wäre der im Diagramm grün umrandete Vollgeldteil. Der andere Teil wäre eine langfristig finanzierte Finanzgesellschaft mit Kreditvergabe.

(Die Bilanzen vorher und nachher sind so angepasst, dass die gesamtwirtschaftlich wichtigen Grössen, d.h. sowohl das Kreditvolumen als auch der Bestand an Einlagen, unverändert bleiben. Im Übergang müsste also die SNB 90 Fr. Geld schaffen, während der Kapitalmarkt der Bank zusätzlich 90 Fr. Kredit zur Verfügung stellen müsste.)

Nach der Umstrukturierung käme es nie mehr zu einem „Bank Run“. Die Einlagen können jederzeit bar ausgezahlt werden; die übrigen Schulden der Bank wären längerfristig und können nicht von den Gläubigern plötzlich geltend gemacht werden. Die Bank könnte immer noch bankrott gehen, wenn die Kreditnehmer ihre Schulden nicht zurückzahlen können, aber die Einleger kämen dadurch nicht zu Schaden. Die Initianten wollen damit die Wirtschaft vor systemischen Schäden durch Bankenkrisen schützen. Gleicheitig würden die Banken ihrer Elemantarfunktion beraubt, die Einleger einerseits gegen plötzlichen Geldbedarf zu versichern und andererseits am Zinsertrag des Kreditgeschäfts zu beteiligen.

Eine grosse Verantwortung käme auf die SNB zu. Sie müsste die Geldversorgung allein regeln. Bisher können Banken eine Geldknappheit oder ein Überangebot abfedern, indem sie pro 100 Fr. Einlagen weniger oder mehr als die 10 Fr. SNB-Geld in unserer Musterbilanz halten. Die Befürworten der Initiative glauben, die SNB könne den Geldumlauf besser dosieren als die Banken; die Gegner trauen eher dem kommerziellen Flair der Banken als dem gouvernementalen Ermessen der SNB.

 

Freispruch für Bargeld

Urs Birchler [Warnung: Der Autor ist als Mitveranstalter nicht neutral.]

Der Prozess ist vorbei. Am Donnerstag stand (wie hier angekündigt) im Miller’s das Bargeld vor dem Richter. Die Anklage:

  1. Bargeld spielt eine entscheidende Rolle bei zahlreichen kriminellen Tätigkeiten.
  2. Bargeld ist ein ineffizientes (d.h. zu teures) Zahl ungsmittel.
  3. Bargeld behindert die Geldpolitik in Zeiten, in denen der optimale Zinssatz negativ ist.

Der Richter folgte weitgehend der Jury, die auf „unschuldig in allen Punkten“ erkannte. Zum Teil dürfte der Freispruch daran liegen, dass als Schuldkriterium die Latte mit „beyond reasonable doubt“ hoch gelegt war. Auch die meisten Zeugen und Experten — alles international renommierte Forscher — neigten auf die „pro cash“-Seite. Ihre Referate (Folien) sind bei SUERF abrufbar. Ausnahme Peter Sloterdijk, der gegen Schluss mit dem Besen (echt und philosophisch) die Bühne wischte und den tiefen Hang des Menschen zu Barem erklärte.

Für mich mindestens so wichtig wie das Ergebnis: Unser Format „Dramatische Konferenz“ (in der Ausschreibung noch versteckt hinter einem konventionell aufgesetzten Konferenz-Programm) hat funktioniert. Die Referenten blieben fokussiert, Befragungen waren intensiv, und das Publikum blieb gespannt bei der Sache. Radio SRF1 hat in einem längeren Beitrag, z.T. mit O-Ton, berichtet.

Nähere Auskünfte: Barbara Ellenberger (Ellenberger@millers-studio.ch) und Urs Birchler (urs.birchler@bf.uzh.ch).

NZZ-Wirtschaftsredaktion im Elfenbeinturm?

Urs Birchler

Gratulation an meine Mit-Batzer Marius Brülhart, Gebhard Kirchgässner und Monika Bütler! Sie sind alle drei unter den einflussreichsten Schweizer Ökonomen.

Ob „einflussreichst“ auch bedeutet, dass jemand zuhört? Der Kommentar zum Ökonomenranking in der NZZ von Jürg Müller (5.9.2015, S. 15) weckt Zweifel. Jürg Müller beklagt zwar, „wie sehr die Ökonomen den Gang in die Öffentlichkeit scheuen“. Und ganz dick: „Bei zukunftsweisenden Fragen wie beispielsweise dem demographischen Wandel und der Migration … geht [die öffentliche Debatte] ohne materielle Mitwirkung der Wirtschaftsforscher über die Bühne.“ Gerade hier hätte er schon bei batz.ch (und das ist eine kleine Welt) einiges gefunden von Uwe Sunde (Demographie und Staatsverschuldung), Monika Bütler (Demographie und Umverteilung oder 2), Monika Engler (Demographie und Staatsfinanzen) und anderen.

Der Artikel beweist nur, dass die Ökonomen, wenn sie denn den Gang an die Öffentlichkeit wagen, offenbar nicht gelesen werden — jedenfalls nicht von Jürg Müller und einigen seiner Kollegen bei der NZZ.

Nicht, dass wir den Elfenbeinturm nicht kennten. Man lese dazu Monika Bütler in der Volkswirtschaft. Doch müssen Professoren in erster Linie unterrichten und Forschen. Im Vergleich zur 20-köpfigen Wirtschaftsredaktion der NZZ — die wirtschaftskundigen Redaktoren anderer Ressorts nicht mitgezählt — machen die rund hundert vollamtlichen Wirtschaftprofessoren an den Schweizer Universitäten der Deutschschweiz, deshalb eine gute Figur in den Medien. Vielleicht nicht immer in den schweizerischen.

Hier klemmt es nämlich. Ein Beispiel: Monika Bütler zeigte vor rund fünf Jahren in einem Aufsatz mit schweizerischen Daten, dass Ergänzungsleistungen die Anreize so verzerren, dass bei der Pensionierung eher Kapital als Rente gewählt wird. Eine Kurzfassung des Artikels wurde u.a. auch der NZZ angeboten. Seither hat diese Forschung der Autorin Einladungen an die Wharton School, nach Singapur, Australien und Holland eingebracht. In der Schweiz blieb das Interesse gering trotz explodierenden Kosten bei den Ergänzungsleistungen.

Jürg Müller spekuliert, die Schweizer Ökonomen seien sogar schuld, dass „in jüngster Zeit unsinnige Vorlagen auf Zustimmung der Bevölkerung gestossen sind [er meint die Stimmbürger]. Hat er die Beiträge zur Goldinitiative von Aleksander Berentsen (1) und mir (2, 3, 4, 5, 6) gelesen? Oder zur Erbschaftssteuer Marius Brülhart (1, 2, 3) und Monika Bütler (1, 2, 3)?

Jürg Müller beklagt, „dass nur allzu oft längst überholte Theorien die Richtung vorgeben.“ Stimmt — Beispiel NZZ. Es gibt in der empirischen Finance ein Ergebnis, das an Robustheit kaum mehr zu überbieten ist: Aus den vergangenen Bewegungen der Aktien- oder Devisenkurse, lassen sich keine gewinnbringenden Prognosen ableiten. Dies hindert die NZZ nicht daran, wöchentlich fast eine Seite der chartechnischen Kaffeesatzlektüre zu widmen und uns vor herannahenden Todespunkten und dergleichen Mumpitz zu warnen.

„Ökonomen sollten die Studierstube wieder einmal verlassen.“ Ein solcher Satz kann nur in einer zu gut geheizten Redaktionsstube entstanden sein.