Passen die Steuerreform und die AHV-Reform letztlich doch zueinander?

Marius Brülhart

In einer ersten Überschlagsrechnung zur Unternehmenssteuer-plus-AHV-Reform kam ich kürzlich zum Schluss, dass diese Vorlage signifikant zu Lasten von Haushalten in den unteren 90 Einkommensperzentilen („Untere-90“) an die oberen 10 Prozent („Top-10“) umverteilen würde.

Angesichts der politischer Brisanz einer solchen Diagnose sollte meine holzschnittartige Analyse daraufhin geprüft werden, ob sie auch bei einem etwas feineren Ansatz zum gleichen Schluss führt.

Insbesondere gilt es, dynamische Wirkungen der Steuerreform zu berücksichtigen, denn die betroffenen Firmen werden zweifelsohne auf Steuersatzänderungen reagieren. Zudem sollte man dem Anteil ausländischer Anteilseigner an Schweizer Unternehmen Rechnung tragen, denn ein beträchtlicher Teil der von Schweizer Unternehmenssteuern direkt Betroffenen ist gar nicht in der Schweiz ansässig.

Zu den dynamischen Wirkungen hat die Eidgenössische Steuerverwaltung eine detaillierte Studie publiziert. (Volle Offenlegung: David Staubli, einer der beiden Autoren, ist ein ehemaliger Mitarbeiter meiner Abteilung an der Universität Lausanne.) Diese Studie bringt willkommenes Licht ins Dunkel der Unternehmenssteuerreform, und schafft somit Vertrauen in die Arbeit unserer Regierung und Verwaltung. Die Studie deckt eine Vielzahl von Szenarien ab, je nach angenommener Steuerempfindlichkeit der ausgewiesenen Firmengewinne, Entwicklung der Steuersätze in den Kantonen und in anderen Ländern, und diverser anderer Annahmen, über welche grosse Unsicherheit besteht.

Im Parlament arbeitet man zur Zeit mit einem geschätzten steuerreformbedingten Einnahmenausfall von 2.1 Milliarden Franken. Dieser Wert entspricht ungefähr der statischen Schätzung der ESTV-Studie. Aber handelt es sich dabei auch um die relevanteste Zahl?

Gemäss dem zentralen dynamischen Szenario der ESTV-Studie zöge die Steuerreform für bereits heute ordentlich besteuerte Unternehmen mittelfristig eine Steuerersparnis von 3.4 Milliarden Franken nach sich – ein geraumer Mitnahmeeffekt für die Aktionäre normaler Schweizer Unternehmen. Die aktuellen Statusfirmen hingegen würden gegen 2.7 Franken zusätzlich in die Staatskasse einzahlen, denn ihre Steuerbelastung würde ansteigen. Der mittelfristige Unternehmenssteuerausfall würde somit rund 0.7 Milliarden Franken betragen, das heisst ein Drittel der meist zitierten 2.1 Milliarden. Ich nehme hier einmal an, dass die Folgen solcher Einnahmeausfälle alle Einkommensgruppen ungefähr gleich belasten, was gerundet -0.6 Milliarden ergibt für die Unteren-90 und -0.1 Milliarden für die Top-10.

Die ESTV-Studie berücksichtigt zusätzlich „induzierte Effekte“ über einkommensbedingte Steuereinnahmen und kommt damit sogar auf einen positiven Nettoeffekt der Steuerreform für die Staatskasse. Angesichts der noch grösseren Unsicherheiten bei der Schätzung der induzierten Effekte und derer Verteilungswirkungen blende ich diese hier vorerst einmal aus.

Somit stellt sich noch die Frage, welcher Anteil der Gewinnsteuerersparnisse in der Schweiz bleiben würde, und welcher Anteil ausländischen Aktionären zugutekäme. Gemäss Angaben aus dem Eidgenössischen Finanzdepartement fliesst weit über die Hälfte der in der Schweiz ausgewiesenen Gewinne an ausländische Investoren. Ich nehme darauf abstützend einen Ausländeranteil von 60 Prozent bei den ordentlich besteuerten Unternehmen und von 80 Prozent bei den Statusfirmen an.

Die mittelfristigen Wirkungen der Unternehmenssteuerreform verteilen sich demgemäss folgendermassen:
• Aktionäre im Ausland: -0.1 Milliarden (= 0.8 x -2.7 Milliarden + 0.6 x 3.4 Milliarden)
• Top-10 Schweiz: +0.7 Milliarden (= 0.2 x -2.7 Milliarden + 0.4 x 3.4 Milliarden – 0.1 Milliarden)
• Untere-90 Schweiz: -0.6 Milliarden

Die Unternehmenssteuerreform erweist sich also auch in dieser Betrachtung als degressiv, aber die Umverteilung von unten nach oben ist weniger ausgeprägt als in der rein statischen Analyse.

Gemäss meiner Überschlagsrechnung kostet die AHV-Reform die Top-10 0.8 Milliarden Franken und beschert den Unteren-90 0.8 Milliarden. (Man kann das auch anders rechnen als ich es tat, indem man die 0.9 Milliarden aus der Mehrwerts- und direkten Bundessteuer als gegeben betrachtet und die Opportunitätskosten auf der Ausgabenseite aufteilt, und indem man die implizite Progressionswirkung bei den Lohnprozenten einbezieht. Das resultierende Umverteilungsergebnis bleibt dann in etwa dasselbe.)

Siehe da: Die Gewinne und Verluste der beiden Vorlagen kompensieren sich fast genau. Somit erscheint der Steuerreform-AHV-Deal nun verteilungsmässig einigermassen neutral.

Dies ist natürlich immer noch eine grobe Schätzung. Was könnte den Befund wiederum kippen?

Zum einen würde eine Berücksichtigung der induzierten Effekte der Steuerreform (via eine wachsende Lohnsumme) den Gesamteffekt noch stärker zu Gunsten der Unteren-90 ausfallen lassen.

Zum anderen hätte insbesondere eine Fehleinschätzung des internationalen steuerpolitischen Umfelds gravierende Folgen für die Analyse. Die ESTV-Studie geht davon aus, dass die Steuern für multinationale Firmen an Konkurrenzstandorten ebenfalls ansteigen werden. Wäre dem nicht so, würde aus der dem simulierten dynamischen Steuerausfall von 0.7 Milliarden ein Loch von bis zu 3.1 Milliarden (bei unveränderten Steuersätzen im Ausland), was natürlich vor allem die Unteren-90 zu spüren bekämen.

Dennoch: Unter plausiblen dynamischen Annahmen scheint sich die Intuition der ständerätlichen Kompromiss-Schmiede zu bestätigen. Auf den zweiten Blick passen die beiden Reformen zumindest in verteilungspolitischer Hinsicht gar nicht so schlecht zueinander.

Wer bezahlt den Steuerreform-AHV-Deal?

Marius Brülhart

Im Mai hat der Ständerat vorgeschlagen, die beiden grössten wirtschaftspolitischen Reformpojekte – Unternehmenssteuern und AHV – nach den gescheiterten Volksabstimmungen des Vorjahres im Kombi-Pack neu aufzulegen. Die Einnahmenausfälle einer etwas entschärften Steuerreform würden, so lautet der neue Slogan, Franken um Franken kompensiert durch zusätzliche Gelder für die AHV. Der Vorschlag scheint bislang auf geraume Zustimmung quer durch die Bundesratsparteien zu stossen.

Dieser Konsens ist beinahe verdächtig: Alle sehen sich offenbar als Gewinner, obwohl – oder gerade weil – die diskutierten Reformen komplexe und milliardenschwere Finanzflüsse umlenken.

Ein möglicher Grund ist, dass die wahrscheinlichen Verlierer der Reformen in der politischen Diskussion untervertreten sind: die Jungen.

Gemäss einer anderen Lesart der Geschehnisse irren sich gewisse Politiker schlicht und einfach, wenn sie in der Kombination der beiden Reformen einen „sozialen Ausgleich“ erkennen. Michael Hermann hat es folgendermassen auf den Punkt gebracht: „Bald wird klar sein, dass eine Sanierung der AHV durch die Allgemeinheit keine Kompensation für Steuererleichterungen bei den Unternehmen ist“.

Eine – wenn nicht die – zentrale Frage in dieser Debatte betrifft also wie so oft die Verteilungswirkungen: Wer wären unter dem Strich die Gewinner, und wer würde verlieren?

Zur Befriedigung meiner eigenen Neugier habe ich dazu eine erste, überaus grobe, Schätzung versucht. Und trotz geraumem Fehlerrisiko, wage ich es, diese mit der geneigten Batz-Leserschaft zu teilen.

Meine Überschlagsrechnung gestaltet sich wie folgt.

Teilen wir die Schweizer Bevölkerung auf in die obersten 10 Prozent der Steuerzahler („Top-10“) und den Rest („Untere-90“). Erstere Kategorie entspricht gemäss Bundessteuerstatistik ungefähr Ehepaaren mit einem steuerbaren Einkommen über 150‘000 Franken und Einzelhaushalten mit einem steuerbaren Einkommen über 80‘000 Franken. Alle anderen gehören zu den Unteren-90.

Nehmen wir nun der Einfachheit halber an,
1. dass alle Arbeitgeber und Aktionäre zur Top-10-Kategorie gehören,
2. dass die Top-10-Haushalte die gesamten direkten Bundessteuern begleichen, und
3. dass die Unteren-90 die gesamten Mehrwertsteuern begleichen.

Unter der ersten Annahme gehören die Gewinner der Unternehmenssteuerreform allesamt zu den Top-10. Diesen kommen also gemäss ständerätlicher Schätzung 2.1 Milliarden Franken an Steuererleichterungen zugute. Die Unteren-90 bekommen in dieser simplistisch statischen Sicht nichts ab von der Steuerreform.

Der Hauptteil der neuen AHV-Mittel, nämlich 1.2 Milliarden, soll gemäss Vorschlag durch 0.3 zusätzlichen Lohnprozente erhoben werden – je hälftig über Arbeitnehmer- und Arbeitgeberbeiträge. Nehmen wir an, diese Zusatzkosten werden effektiv von den jeweiligen Rechnungsempfängern getragen und nicht überwälzt. Dann kosten die Lohnprozente Top-10 und Untere-90 je 0.6 Milliarden. (Die Umverteilung innerhalb der AHV von Versicherten oberhalb der rentenbildenden Beitragsschwelle an den Rest der Bevölkerung ist gemäss existierender Schätzungen übrigens ziemlich gering.)

Hinzu kommen für die AHV-Finanzierung gemäss Vorschlag ein um 0.4 Milliarden höherer Bundesbeitrag, gestemmt in erster Linie von den Top-10; plus 0.5 zusätzliche Mehrwertssteuermilliarden, hauptsächlich zu Lasten der Unteren-90.

Auf der Positivseite meiner Rechnung gilt es noch, die neu gesicherten Einnahmen von 2.1 AHV Milliarden aufzusplitten. Ich nehme an, sie kommen zu 90% den Unteren-90 zugute, womit diese 1.9 Milliarden und die Top-10 0.2 Milliarden erhalten würden.

Somit habe ich die nötigen Zahlen für meine summarische Rechnung:
• Top-10: +2.1 Milliarden aus der Steuerreform, +0.2 Milliarden gesicherte AHV, -0.6 Milliarden für AHV Lohnprozente, -0.4 Milliarden für AHV Bundesbeitrag
= +1.3 Milliarden netto
• Untere-90: +1.9 Milliarden gesicherte AHV, -0.6 Milliarden für AHV Lohnprozente, -0.5 Milliarden Mehrwertssteuer
= +0.7 Milliarden netto

Die Top-10 gewinnen also 0.6 Milliarden mehr als die Unteren-90. Angesichts der Tatsache, dass die Unteren-90 per Definition neun Mal zahlreicher sind als die Top-10, bedeuten meine Ergebnisse, dass der durchschnittliche Top-10-Haushalt beinahe 17 Mal mehr profitieren würde als der durchschnittliche Untere-90-Haushalt.

Nicht einberechnet ist hier die Verteilungswirkung des 2.1-Milliarden-Einnahmenausfalls durch die Steuerreform. Ein Einbezug dieses Faktors würde die Rechnung wohl noch stärker zu Ungunsten der Unteren-90 ausfallen lassen.

Soweit sieht der Reformvorschlag also nach einem schlechten Geschäft aus für die unteren und mittleren Einkommensschichten.

Das Bild könnte sich insbesondere verändern, wenn man allfällige dynamische Wirkungen der Steuerreform einbezieht. Ich werde darauf in einem späteren Beitrag noch im Detail eingehen.

Die Schuldenbremse vervollständigen

Marius Brülhart

„Budgetiert wird rot, abgeschlossen wird schwarz.“ So bringt der Tages-Anzeiger auf den Punkt, wie der Bundeshaushalt im 21. Jahrhundert bislang funktioniert. Seit der Einführung der Schuldenbremse im Jahr 2003 wird Jahr für Jahr weniger Geld ausgegeben als im Budget vorgesehen. Sogar in der tiefsten Finanzkrise war das so. Auch das Rechnungsjahr 2017 bot keine Ausnahme: Von den im Voranschlag gesprochenen Geldern blieben 400 Millionen als Kreditreste übrig. Und das trotz schmerzhafter Sparmassnahmen bei der Erarbeitung des Voranschlags im Dezember 2016.

Nicht voll ausgeschöpfte Budgets sind an sich kein Problem, sondern eher Ausdruck einer funktionierenden Verwaltung. Die Departemente haben in der Budgetierungsphase einen Anreiz, eine Sicherheitsmarge mit einzurechnen, denn Budgetunterschreitungen sind aus ihrer Sicht weniger problematisch als Budgetüberschreitungen. Zudem ist die Ex-post-Kontrolle von Rechnungsabschlüssen einfacher als die Ex-ante-Prüfung von Voranschlägen. (Die in jüngsten Jahren ebenfalls wiederkehrende Unterschätzung des Einnahmenwachstums – der wichtigste Grund für den ausserordentlich hohen Überschuss der Rechnung 2017 – ist ein separates Thema, welches ich hier ausblende.)

Budgetunterschreitungen sind auch in der Zukunft wahrscheinlich. Die letztes Jahr mit dem Neuen Führungsmodell der Bundesverwaltungeingeführten Globalbudgets dürften die Unterschreitungen zwar etwas eindämmen, aber im Finanzdepartement wird weiterhin mit Restposten von jährlich 0,5 bis 1 Milliarde gerechnet.

Die Schuldenbremse in ihrer aktuellen Ausgestaltung ignoriert dieses Phänomen. Gemäss des zentralen Verfassungsartikels hält der Bund „seine Ausgaben und Einnahmen auf Dauer im Gleichgewicht“. Diese Vorgabe wird im Finanzhaushaltgesetz zur Zeit so ausgelegt, dass die Ausgaben bereits im Budget die erwarteten Einnahmen in der Summe über den Konjunkturzyklus nicht übertreffen dürfen.

Die so im Gesetz verankerte Praxis ist vergleichbar mit einer Fluggesellschaft, die ihre Maschinen zu füllen versucht, indem sie genauso viele Tickets verkauft wie sie Sitze zu belegen hat. Im Schnitt führt eine solcher Ansatz jedoch zu einer Unterauslastung der Flugzeuge, denn es gibt meistens einen Anteil der gebuchten Passagiere, die ihre Reise aus unvorhergesehenen Gründen nicht antreten.

Da die effektiven Ausgaben jeweils unter den budgetierten Ausgaben zu liegen kommen, impliziert die gegenwärtig angewandte Schuldenbremse nicht ein Gleichgewicht von Ausgaben und Einnahmen, sondern einen quasi eingebauten Einnahmenüberschuss. Der oberste Verfassungsgrundsatz zur Schuldenbremse und dessen Umsetzung stehen somit in einem gewissen Widerspruch.

Eine Lösung dieses Widerspruchs wäre ziemlich einfach. Genau wie die Fluggesellschaften ihre Maschinen proportional zu den erwarteten „no shows“ überbuchen, könnte man auch im Voranschlag des Bundes eine antizipative Überbudgetierung im Umfang der erwarteten Kreditreste einbauen.

Konkret könnte man den Konjunkturfaktor der Schuldenbremse , mit welchem die erwarteten Einnahmen zur Festlegung des Ausgabenplafonds multipliziert werden, anpassen. Der gegenwärtige Konjunkturfaktor besteht aus dem Verhältnis vom langfristigen Trend-BIP und dem erwarteten BIP im Budgetjahr. In schlechten Jahren ist dieser Faktor grösser als eins und erlaubt ein Defizit. In guten Jahren ist er kleiner als eins und gebietet einen Überschuss im Voranschlag. Im langfristigen Mittel jedoch ist der Konjunkturfaktor per Konstruktion gleich eins und impliziert somit ein ausgeglichenes Budget. Dies zieht aufgrund der Kreditrest-Problematik im Durchschnitt überschüssige Rechnungsabschlüsse nach sich.

Man könnte den Konjunkturfaktor um einen additiven „administrativen Korrekturfaktor“ (AK) ergänzen. Für den Konjukturfaktor gälte somit neu die Formel ((Trend-BIP / aktuelles BIP) + AK), wobei AK den Prozentanteil der erwarteten Kreditreste beziffert. Bei einem Bundeshaushalt von 70 Milliarden schiene ein Wert von 0.01 für AK durchaus realistisch. Das wären immerhin 700 Millionen pro Jahr.

Der administrative Korrekturfaktor könnte jährlich aufgrund eines gleitendenden Mittels der Budgetunterschreitungen in vergangenen Rechnungsabschlüssen ermittelt werden. Angesichts der regelmässig wiederkehrenden Natur der Kreditreste darf man von einem über die Zeit ziemlich stabilen Wert ausgehen. Je länger der Zeitraum über welchen das gleitende Mittel berechnet würde, desto höher die Stabilität des Korrekturfaktors, und desto geringer auch die Gefahr, dass Kreditreste manipuliert werden könnten zur Beeinflussung künftiger Ausgabenplafonds.

Eine solche Komplettierung des Regelwerks würde die Schuldenbremse in sich kohärent ausgestalten, indem sie nun auf ein Gleichgewicht der der tatsächlichen Ausgaben und Einnahmen ausgerichtet wäre.

Die Einführung eines administrativen Korrekturfaktors würde zudem dauerhaften neuen Budgetspielraum bieten. Dieser Spielraum ginge auf Kosten einer weiteren nominalen Entschuldung des Bundes. Ein Rückbau der Nominalschuld ist aber im einschlägigen Verfassungsartikel nicht vorgesehen und auch ökonomisch nicht mehr unbedingt sinnvoll. Relativ zum BIP – und das ist die wirklich relevante Masszahl – würde die Entschuldung zudem weiter fortschreiten.

Der Expertenbericht zur Schuldenbremse , an dem ich letztes Jahr mitgewirkt habe, kam zum Schluss, dass solcher Budgetspielraum gegebenenfalls besser für Steuererleichterungen als für Ausgabenerhöhungen genutzt würde, da Kreditreste in erster Linie Ausdruck von nicht ausgeschöpften Budgetpuffern sind. Die anstehende Unternehmenssteuerreform oder Anpassungen bei der Familienbesteuerung könnten mittels einer solchen Korrektur der Schuldenbremse zumindest teilweise „gegenfinanziert“ werden. Im Prinzip könnte der Spielraum allerdings auch auf der Aufgabenseite ausgenutzt werden, zum Beispiel für höhere Zuschüsse an die AHV.

Der Expertenbericht präsentierte die hier skizzierte Anpassung der Schuldenbremse als erwägenswert, plädierte jedoch vorerst für eine Beibehaltung des Status Quo. Der Rechnungsüberschuss 2017 mit den weiterhin umfangreichen Budgetresten auch nach Einführung des neuen Führungsmodells in der Bundesverwaltung hat die Argumente für eine Anpassung der Schuldenbremse seither allerdings weiter gestärkt.

Geld für die Katz

Urs Birchler

Der Zürcher Gemeinderat flirtet gemäss NZZ immer noch oder schon wieder mit der Idee des bedingungslosen Grundeinkommens. Konkret: mit der Idee eines Pilotversuchs.

Man mag zum Grundeinkommen stehen wie man will und man mag „bedingungslos“ definieren, wie man will. Aber man darf nicht glauben, mit einem befristeten „Pilotversuch“ irgend etwas zu erfahren. Das Resultat wird sein: Die Empfänger hören nicht auf zu arbeiten. Natürlich nicht. Sie wissen, dass der Versuch befristet ist und dass sie nachher wieder einen Job brauchen. Daher sagt er nichts aus über ein definitiv eingeführtes Grundeinkommen.

Der Pilotversuch, so er denn je realisiert würde, wäre daher Steuergeld für die Katz. Dabei gäbe es, weiss Gott, Dutzende von interessanten Forschungsprojekten, die das Geld brauchen könnten, wenn es denn unbedingt ausgegeben werden muss. Gemeinderatsmitglieder, welche die Wissenschaft höher schätzen als Pilotversuchs-Folklore, dürfen sich gerne bei mir melden.

Sprachvergifterin NZZ

Urs Birchler

Was ist nur bei der NZZ los? Konkret: Im Feuilleton. Jetzt hat es anscheinend auch die Sprache (genauer: das Denken) erwischt. Man versuche, den Beitrag von Feuilleton-Chef René Scheu in der Ausgabe von gestern zu lesen. Ich sage: „versuche“, denn der Beitrag ist weithin kaum verständlich und dort, wo er verständlich ist, als NZZ-Artikel beängstigend.

Schon der Titel verrät die Haltung: „Die Barbaren, sie lauern überall“. Die Andersdenkenden sind Barbaren. Ein Trick, so alt, er gehörte ins Uno-Unkulturerbe. (Fussnote: Den Titel setzt meist nicht der Autor, sondern der Redaktor. Dies macht die Sache aber nur noch schlimmer; die Barbarisierung der Gegenseite hat sich offenbar schon in die Kultur der NZZ eingefressen.)

Im Untertitel verpflichtet sich Herr Scheu zwar der Aufklärung: „Wie Progressive das Erbe der Aufklärung verspielen.“ Aufklärerisch, im Sinne von erhellend, ist der Text dann eben gerade nicht. Eher verdunkelnd. Der Autor versteht partout nicht, dass sich eine Feministin für ein Recht auf Vollverschleierung „starkmachen“ (warum nicht einfach: „sich einsetzen“?) kann. Ist Toleranz nicht eine akzeptable — oder gar die einzig konsequente — Form von Liberalismus? Darauf folgt eine Irrfahrt durch verworrene Bruchstücke soziologischer Literatur mit (unklarer) Unterscheidung zwischen „rassistischem Antirassismus“ und „antirassistischem Rassismus“. Darauf aufgepfropft dann des Autors wahre Botschaft: Die Verunglimpfung der „Progressiven“, der „selbsternannten Träger von Toleranz und Offenheit“. Diese müssen sich „von ihrem Überlegenheitsgefühl verabschieden“. (Sagt ein Autor, der für die Aussage „Sartres Denkfehler liegt auf der Hand“ nicht zu scheu ist.) Die „Progressiven“, so lesen wir, sind eben nicht fähig, die „eigene Identität zu transzendieren“ (Hiiiilfe!).

Im Gegenzug transzendieren wir hier die eigene Identität von batz.ch als Wirtschaftsblog. Da Wirtschaft etwas mit Freiheit zu tun hat. Und Freiheit etwas mit Sprache. Und weil (aufklärerische) Sprache da ist, um zu klären, nicht um zu verunglimpfen und aufzuhetzen.

Aufhetzen? Sicher. Der Titel heisst nicht einfach „Überall Barbaren!“. Ein solcher Seufzer wäre mir an einem Mittelmeerstrand wohl auch schon entfahren. Er lautet: „Die Barbaren, sie lauern überall“. Mit der (französischen) Repetition des Subjekts wird dieses im Deutschen betont, der Titel zum Warnschrei. Sie sind nicht nur überall, sie lauern auch noch! Die Barbaren. Das heisst, die (in guter Absicht) anders Denkenden.

Vollgeld-Leitfaden

Urs Birchler

In ungefähr einem Jahr kommt die Vollgeld-Initiative (VGI) an die Urne. Sie zielt auf eine grundlegende Reform unserer Geldordnung. Die Argumente der Befürworter und Gegner klaffen entsprechend weit auseinander. Angesichts der polarisierten Diskussion und der teils technischen Materie haben Jean-Charles Rochet und ich versucht, einen sachlichen und auch für ein breiteres Publikum gut verständlichen Leitfaden zu schreiben. Ein paar kleinere Beiträge sind hier auf Batz.ch schon früher erschienen: 1, 2, 3, 4, 5, 6.

Hier nun also unser Beitrag:

Die Vollgeld-Initiative — ein Leitfaden für jedermann

Wir legen den Text schon als (fortgeschrittenen) Entwurf vor, damit er zeitgerecht zur Debatte im Nationalrat zur Verfügung steht (die WAK-NR tagt am 23. Oktober). Der Ständerat hat die Initiative bereits behandelt (Ablehnung ohne Gegenvorschlag).

Update 13.10.2017: Ergänzend haben wir eine Kurzversion auf englisch, die demnächst auch auf deutsch und französisch folgen soll:

Die Vollgeld-Initiative — a summary in english

Über Kommentare freuen wir uns.

Service Public

Monika Bütler

Unser älterer Sohn, 15, besuchte mich in den Sommerferien am Arbeitsplatz in St. Gallen. Als er dem Kondukteur (neu Reisezugbegleiter) seinen SwissPass zeigt, legte dieser die Stirn in Falten. Das GA war schon mehrere Male in der Waschmaschine gelandet, nach Umwegen auf dem Fundbüro, auf dem Fussballplatz und wer weiss noch wo. An mehreren Stellen gebrochen und kaum mehr lesbar. „Du solltest Dir dringend eine neue Karte besorgen“, meinte der Kondukteur.

Unser Sohn erzählte die Geschichte noch am gleichen Abend (was bei der Verschwiegenheit von Teenagern ja bereits an ein Wunder grenzt). Wir waren uns einig, dass wir das ohnehin mal in Angriff nehmen müssten – auch weil das Bild noch aus der Kindergartenzeit stammte. Und dann kamen dringendere Sachen dazwischen und wir schoben die Angelegenheit auf die lange Bank.

Etwa 10 Tage später erhielt unser Sohn ein Schreiben der SBB. Darin enthalten: einen nigelnagel neuen SwissPass. Unser Sohn glaubt bis heute nicht recht, dass der gute Kondukteur selber die neue Karte bestellt hatte. So etwas sei doch gar nicht menschenmöglich. Ein Wunder. Doch eine andere Möglichkeit gibt es nicht: mein Mann und ich waren es bestimmt nicht.  Und so reist unser grosser Teenager mit einem neuen GA durch die Welt – mit Kindergartenfoto.

 

10 Jahre Information Economics

CoverUrs Birchler

Gestern abend haben Monika und ich ein bisschen gefeiert. Just the two of us. Am 17. Juli 2007 erschien unser Lehrbuch Information Economics. Gerade noch vor Ausbruch der Finanzkrise. Gerne hätte der Verlag eine neue Auflage gesehen. Aber die Masse an neuen Entwicklungen und an neuer Literatur schien uns zu gross. Und. es gibt Dinge, die man nicht wiederholen kann. Dazu gehört auch das Bad in den Weihern von Sankt Gallen, nachdem wir das Manuskript abgeschickt hatten. Das tiefgrüne Wasser, das Spiel von Sonnenstrahlen und Laub — und das Manuskript auf der Post. Der stumme Urschrei klingt mir noch heute nach. Es hat sich doch gelohnt.

Finden Sie diesen Artikel lesenswert?

Urs Birchler

Als Kinder schrieben wir mit Kreide an die Wände „Wer das liest ist ein Aff“. Der Tages-Anzeiger Online macht seine Leser/innen regelmässig zu Affen mit der bald am Ende jeden Artikels folgenden Frage „Ist dieser Artikel lesenswert?“. Wer zur Frage kommt, hat nämlich den Artikel schon gelesen und die Frage implizit mit Ja beantwortet.

Natürlich glaubt die Redaktion zu erfahren, ob sich die Lektüre im nachhinein gesehen gelohnt hat. Da man aber sowohl Ja oder Nein sagen als auch sich der Stimme enthalten kann, scheint die Auswertung knifflig. Was wenn nur einer Ja sagt und sich alle anderen enthalten. Dann haben 100% Ja gesagt, aber niemand scheint durch das Gelesene tief ergriffen. (Die Anzahl Besucher, die einen Artikel angesehen haben, kennt der TA auch ohne Umfrage.) Zudem: Heisst Nein nicht oft auch: Ich hätte den Artikel lieber nicht gelesen, weil mir die Botschaft nicht gefällt?

Vor allem aber: Was geschieht eigentlich mit den Antworten? Bekommt der/die Autor/in eines als „lesenswert“ bewerteten Artikels einen Bonus oder ein anerkennendes Nicken des Chefredaktors oder der Ressortleiterin? (Wenn nein, weshalb dann die Leser/innen dauernd mit der Frage nerven?) Oder bekomme ich mit der Zeit eine individuelle Online-Ausgabe, die darauf beruht, was ich in der Vergangenheit als lesenswert beurteilte?

Vielleicht hat die Zeitung, die sich sonst durchaus über Populismus, Filterblasen und Datennutzung sorgt, auf diese Fragen eine Antwort. In der Zwischenzeit tun mir jedenfalls die armen Autoren/innen leid, die mit jedem ihrer Texte zittern müssen, ob die Leserschaft den Daumen hebt oder senkt.

Finden Sie diesen Artikel lesenswert? Mit Verlaub, liebe Leserinnen und Leser: Es ist uns egal. Ihnen zuliebe. Bei Batz.ch schreiben wir so, wie wir es für richtig und (manchmal) wichtig halten.

Wer hier schreibt, ist ein Aff.

Abschied von Gebhard Kirchgässner

Unser Mit-Batzer, Kollege und Freund Gebhard Kirchgässner ist viel zu früh gestorben.

Wir sind sehr traurig.

Monika Bütler, Urs Birchler, Marius Brülhart

Die untenstehende Würdigung erscheint in leicht gekürzter Form in der NZZ vom 5. April.

Am vergangenen 1. April verstarb – auf den Tag genau 25 Jahre nach seinem Eintritt in die HSG – Professor Dr. Dr. hc Gebhard Kirchgässner nach schwerer Krankheit in seinem 69. Altersjahr. Die Universität St. Gallen verliert mit ihm nicht nur einen brillanten Volkswirt und engagierten Lehrer, sondern auch eine moralische Instanz und einen Brückenbauer zwischen verschiedenen Disziplinen, zwischen Theorie und Praxis.

Nach seiner Habilitation an der Universität Konstanz und der ETH Zürich wirkte Gebhard Kirchgässner ab 1985 als ordentlicher Professor für Finanzwissenschaft an der Universität Osnabrück. 1992 kam er als Vertreter einer modernen Generation von Volkswirtschaftsprofessoren – forschungsorientiert und international vernetzt – an die HSG. Bis zu seiner Emeritierung 2013 prägte der Wandel der damaligen volkswirtschaftlichen Abteilung zu einer international ausgerichteten und interdisziplinären School of Economics and Political Science entscheidend mit.

Gebhard Kirchgässner gehörte zu den profiliertesten und erfolgreichsten Wirtschaftswissenschaftern der Schweiz. Dabei schrieb er nicht nur für seine Forscherkolleginnen, sondern auch – in den Medien und in jüngerer Zeit in Blogs – für Studierende, Politiker und die Allgemeinheit. Seine Arbeiten deckten eine schwindelerregende Breite von Themen ab. So verfasste er zum Beispiel ein Lehrbuch zur Zeitreihenanalyse aber auch Aufsätze zur Bedeutung moralischen Handelns in Marktwirtschaft und Demokratie.

Ganz besonders in Erinnerung wird uns Gebhard Kirchgässner bleiben als einer der Väter der empirischen Forschung zu Föderalismus und Fiskalpolitik. Die Schweiz mit ihren dezentralen Entscheidungsstrukturen und der Vielfalt politischer Systeme diente ihm dabei als Labor. Viele seiner Doktorand(inn)en, die ihn bei diesen Arbeiten begleiteten, sind heute selber erfolgreich in Forschung und Wirtschaftspolitischer Beratung im In- und Ausland tätig.

Gebhard Kirchgässners Forschung fand international grosse Anerkennung. Schweizerischen und internationalen Vereinigungen diente er mit grossem Einsatz, so als Präsident der Schweizerischen Gesellschaft für Volkswirtschaft und Statistik, als Präsident der European Public Choice Society und als Vertrauensperson der Ethikkommission des Vereins für Socialpolitik. Hochverdient wurde es im Jahre 2011 mit dem Ehrendoktor der Universität Freiburg i. Ue. ausgezeichnet.

Ein Entertainer war Gebhard Kirchgässner gewiss nicht, er glänzte vielmehr durch Tiefgang und ein enormes Wissen auch in anderen Disziplinen. Während vieler Jahre lehrte er gemeinsam mit Kollegen aus der Politikwissenschaft. Für die Studierenden vermittelten seine Kurse wertvolle Einsichten über den Tellerrand der Ökonomie hinaus, für die HSG bildeten sie ein wichtiger Bestandteil der angestrebten ganzheitlichen Bildung.

Gebhard Kirchgässner verstand sich immer im Dienst der Gesellschaft. Ganz besonders am Herzen lag ihm sein Engagement für die Schweiz. Bereits vor seiner Einbürgerung, auf die er sichtlich stolz war, diente er seiner Wahlheimat in verschiedenen Funktionen. Er nahm unzählige Beratungsmandate für die Eidgenossenschaft wahr und präsidierte während vieler Jahre die eidgenössische Kommission für Konjunkturfragen. In seiner Wohngemeinde engagierte er sich sogar in der Geschäftsprüfungskommission.

Gebhard Kirchgässner Prinzipientreue und Aufrichtigkeit waren legendär; er sprach auch unangenehme Wahrheiten aus, wenn es der Sache diente. Von seinen Ratschlägen, ob angenehm oder unangenehm, profitierten alle, seine Kolleg(inn)en, seine ehemaligen Studierenden, die Öffentlichkeit. Die Volkswirtschaftslehre als Disziplin verliert mit ihm eine grosse Persönlichkeit, die Schreibende und viele ihrer Kollegen einen spannenden Gesprächspartner und treuen Freund.