Schöner Lügen

Der Tagesanzeiger hat mich an ein altes Fundstück erinnert. Er berichtet kritisch über einen Artikel in dem der Erdölindustrie nahestehenden Quartalsmagazin Avenue mit “Hintergrundinformationen“ zum Thema CO2.

Man kann den Dégoût des TA nachvollziehen, wenn Avenue loslegt mit dem diskreten Hinweis, dass auch Champagnerblasen aus CO2 bestehen. Die Aussage, dass alles Leben auf diesem Planeten auf CO2 beruht, liess dann bei mir die Alarmglocken läuten (die Banalität des Bösen). So kam mir ein Exemplar in meinem Postkartensammelsurium in den Sinn. Die Karte trägt kein Datum, aber stammt aus dem letzten Jahrhundert (geschätzt ca. 1980):

Flusslandschaft

Sie zeigt eine intakte Flusslandschaft. Auf der Rückseite steht: „Reuss“. Darüber steht aber auch etwas anderes:

„Die Ölheizung … lässt die Umwelt aufatmen.“ Das hat tatsächlich einmal jemand gesagt. Im Vergleich zur Braunkohle stimmt es vielleicht sogar. Dass niemand unterschrieben hat, zeigt aber, dass die Aussage wohl schon damals ein klarer — und vorsätzlicher — Schwindel war. Und ein plumper dazu. Fazit: Etwas die Erdölbranche immerhin gelernt: Schöner lügen.

Der gescheiter(t)e Professor?

Urs Birchler

Die NZZ hat meine Kritik an einem Artikel von Patrick Herger nicht auf sich sitzen lassen und mit dem selbstbewussten Titel “An dieser simplen Prozentrechnung scheiterte der prominente Professor“ (Printversion vom 9. März., S. 25) zurückgeschlagen. (In einer weichgespülten Online-Version dann noch: „ein prominenter Professor“).

Die Antwort der NZZ ist nicht besser als der Ursprungsartikel — wie auch viele unserer Kommentatoren zu batz.ch festgestellt haben (kudos!). Wir haben gestern sofort eine Gegendarstellung eingereicht. Sobald diese in der NZZ erscheint, werden wir hier darauf hinweisen.

Bereits hier möchte ich mich verwahren gegen unwahre und beleidigende Unterstellungen. Namentlich suggeriert Patrick Herger mit einem Scheinzitat (in Anführungszeichen) ich hätte den (aus meiner Sicht sexistischen) Ausdruck “Milchmädchenrechnung“ verwendet.

Herabmindernd klingt für mich auch die Passage in der Printversion: “Denn es handelt sich in der Tat um eine komplizierte Angelegenheit. Selbst Universitätsstudenten und Mathematikdozenten bereitet die Prozentrechnung Schwierigkeiten. Man darf hinzufügen: Dasselbe gilt für Finanzprofessoren und Direktionsmitglieder der Schweizerischen Nationalbank.“ (Ich bin seit zehn Jahren nicht mehr bei der SNB; diese hat aber immer noch Direktionsmitglieder.)

In der Online-Version wurde der Text mittlerweile angepasst. Der letzte Satz (“Dasselbe gilt…“) wurde gestrichen. Ich empfehle daher, im Zweifelsfall auch die Print-Version zu konsultieren.

Nachtrag: Die NZZ hat soeben unsere gestern umgehend eingereichte Gegendarstellung online gestellt. Dass meine Berechnung von Anfang an korrekt war, haben mittlerweile auch zahlreiche Kommentare zu meinem Artikel bestätigt. Herzlichen Dank! Und NZZ: Friede sei mit uns!

Digitales Bargeld — Swiss Made?

Urs Birchler

So digital wie Bitcoin, so sicher wie ein Fünfliber oder eine Banknote der Schweizerischen Nationalbank — so wünschen sich manche das ideale Geld. Verschiedene Notenbanken prüfen deshalb seit einigen Jahren die Idee des digitalen Zentralbankgeldes (CBDC — Central Bank Digital Cash/Currency).

In einem Arbeitspapier der SNB haben drei Autoren — David Chaum (DigiCash u.v.m.), Christian Grothoff (Berner Fachhochschule), Thomas Moser (Mitglied des erweiterten Direktoriums der SNB) — unlängst untersucht, nicht ob, aber wie die SNB gegebenenfalls eine „Digitalnote“ schaffen könnte.

Am Anfang steht die Entscheidung: Konto oder Münze (token)? Digitales SNB-Geld in Kontoform gibt es bereits in Gestalt der Giroguthaben der Banken, mit denen diese den Zahlungsverkehr untereinander abwickeln. Die SNB müsste also bloss den Kundenkreis auf das Publikum ausweiten. Dieser Weg ist jedoch dornig: (1.) Die SNB müsste personalintensive Vorkehren zur Verhinderung von Geldwäscherei umsetzen (know your customer); (2.) Konti sind nicht anonym und damit nie hundertprozentig immun gegen staatlichen Missbrauch; (3.) Kontoüberweisungen hinterlassen Daten beim Empfänger.

Die Autoren entschieden sich daher für die Variante „Token“, d.h. die digitale Münze. Hier heisst die Herausforderung: Wie verhindert man eine Duplikation (Fälschung). Copy-Paste mit dem Münzcode wäre doch zu verführerisch. Hier kommt Entscheidung zwei: Hardware oder Software. Ein digitales Guthaben kann in einem geschützten Hardware-Bereich gespeichert werden, ähnlich der bereits bekannten SIM-Karte. Oder es kann in nicht-klonbarem Code niedergelegt werden. Die Autoren befürworten aus Sicherheitsgründen den letzteren Weg, das heisst eine „Sofware-Only“-Lösung.

Konkret befänden sich unsere Digitalfünfliber — wo sonst? — auf dem Handy. Dahin gelangen sie ab Bankkonto. Vom Handy aus können sie ausgegeben oder wieder auf ein Bankkonto zurück geschickt werden. Dieses Digitalgeld wäre also ein Inhaber“papier“. Es hinterlässt beim Bezahlen keine Spuren der Herkunft, genau wie herkömmliches Bargeld. Und wenn das digitale Portemonnaie beim Segeltörn ins Meer fällt, ist mit dem Handy auch das darauf gespeicherte Geld verloren, genau wie beim Portemonnaie.

Das Elegante an der vorgeschlagenen Lösung ist die klare Arbeitsteilung zwischen SNB und Geschäftsbanken. Der Bezug und die Rückgabe von Digitalmünzen erfolgt nur zwischen Inhaber (Kunde oder Händler) und Geschäftsbank. Die Überprüfung und Signatur wird von der SNB geleistet, an welche gebrauchte Digitalmünzen (ähnlich der abgenutzten Banknoten) zurückkehren. Damit bleibt die Trennung von Kundenprüfung (Geschäftsbank) und Schaffung von Zentralbankgeld (SNB) gewahrt.

Das Kernstück des Arbeitspapiers ist die kryptographische Umsetzung dieser Prozesse. Sie beruht, ähnlich wie die Verifizierung bei Bitcoin, auf der Kombination eines privaten Schlüssels und eines öffentlichen Schlüssels.

Wer bei seiner Bank eine Digitalmünze bezieht, erzeugt einen privaten
Schlüssel und bekommt eine Signatur der Zentralbank über den
dazugehörigen öffentlichen Schlüssel, ohne dass diese Schlüssel den
Banken zu diesem Zeitpunkt bekannt werden. Beim Ausgeben der Münze (via Händler und Empfängerbank) signiert der Kunde mit dem privaten Schlüssel die Anweisung zur Übertragung des Wertes der Münze an den Händler, und die Zentralbank prüft die Gültigkeit der Münze auf Basis der Signatur. Bisher alles genau wie Bargeld.

Der Trick bei der Echtheitsprüfung beruht darin, dass die SNB sehen kann, ob das Resultat einer Berechnung (konkret: einer in der Kryptgraphie üblichen Operation mit grossen Primzahlen) korrekt ist, ohne die Ausgangszahlen zu kennen. Wir erinnern uns an die Neunerprobe aus der Primarschule: Ein Blick auf die Neunerprobe zeigt der Lehrerin, ob das Ergebnis einer Division richtig ist (genauer: sein kann), ohne dass sie die Ausgangszahlen ansehen muss. Besser ist vielleicht der Vergleich mit der Prüfziffer einer IBAN-Nummer. Die Prüfziffer folgt aus der IBAN, aber die IBAN nicht aus der Prüfziffer. Die Mathematik der Echtheitsprüfung ist im Arbeitspapier ziemlich verständlich dargestellt. Denjenigen, die wie ich noch nie vom Inversen einer Modulo-Funktion gehört haben, sei eine kurze Nachhilfe empfohlen. Das Chaum-style blind-signature protocol sparen wir uns für den Party-talk. Wichtig ist aber, dass die ganze Software hinter der im Papier dargestellten Digitalmünze auf Open Source Software beruht, und zwar auf dem offensten der verschiedenen Standards, der sogenannten GNU Public License und dem System der GNU-Taler.

Zwischenfazit: Die vorgeschlagene Lösung besticht dadurch, dass sie von allen bisher vorgeschlagenen Formen von CBDC die bestmögliche Abbildung von Bargeld in digitaler Form zu sein scheint. Dennoch bestehen im Hinblick auf eine — von der SNB ausdrücklich nicht geplante — Implementierung noch einige Fragen:

  • Würden im Krisenfall die Kontoinhaber ihr Geld massenweise von den Banken abziehen und in SNB-Digitalgeld umtauschen (Bank Run)?
    Die Autoren bezweifeln dies, da das Geld nicht auf ein Koto bei der SNB fliesst, sondern bei den Inhabern auf dem Handy herumgetragen werden müsste.
  • Lassen sich mit der Digitalmünze Steuern hinterziehen. Die Autoren verneinen dies (ich bin nicht sicher, ob ich die Argumentation schon voll begriffen habe). Ob dies ein Vor- oder ein Nachteil wäre, dürfte umstritten sein (und wäre dann doch ein Unterschied zu Bargeld).
  • Wäre das Geld sicher vor Manipulation? Die digitalen Münzen hätten ein Verfallsdatum und kehrten immer wieder zur SNB zurück, wo sie vernichtet und ersetzt werden. Die Autoren machen geltend, dies sei wichtig, damit nicht immer mehr alte Nummern im Umlauf sind, was die Anfälligkeit zu Missbrauch erhöhen würde. Überdies würden auch die bestehenden Banknoten-Serien periodisch ausgetauscht, wenn auch nur ungefähr alle zehn Jahre. Gleichzeitig sehen sie beim Umtausch die Möglichkeit, zum Beispiel Gebühren zu erheben (=Negativzinsen). Auch dies wäre ein Unterschied zum bestehenden Bargeld, und ebenfalls ein absehbar umstrittener. Hier besteht daher noch eine Lücke in den Spielregeln.
  • Wäre digitales Bargeld eins zu eins gleich physischem Bargeld? Gemäss den Autoren bestünden gewisse Unterschiede, daher könnte also zwischen den beiden ein „Wechselkurs“ ungleich 1 entstehen. Die SNB könnte den Kurs natürlich mit flexiblem Angebot bei 1 fixieren, sei es freiwillig, sei es kraft (anzupassendem) Gesetz. Hier besteht noch Klärungsbedarf.

Fazit: Das im SNB-Arbeitspapier dargelegte Modell eines digitalen Zentralbankgeldes für jedermann scheint mir das interessanteste bisher vorgelegte Rezept. Näher zum physischen Bargeld kommt man kaum noch. In der Halbzeit liegt also die Schweiz mit ihrem „Digi-Taler“ vorne. Für die zweite Hälfte (oder sind wir schon in der Verlängerung?) würde ich noch jemanden aus der Rechtswissenschaft einwechseln.

[P.S: Christian Grothoff, einer der drei Autoren des Arbeitspapiers hat mich auf einen technischen Fehler aufmerksam gemacht. Seine korrigierte Version des Abschnitts „Wer bei seiner Bank eine Digitalmünze bezieht“ habe ich in den Text integriert. Herzlichen Dank, Christian!]

Familienknatsch bei Bitcoins

Der oft zitierte Einleitungssatz zu Leo Tolstois Anna Kerenina — „Alle glücklichen Familien gleichen einander, jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Weise unglücklich“ — gilt offenbar auch für die Bitcoin-Familie.

Familie? Richtig. Der ursprüngliche Bitcoin (an den Börsen BTC) hat nämlich verschiedene Abkömmlinge gezeugt. Einer davon ist Bitcoin Cash (BCH), entstanden 2017 durch eine Gabelung (fork) in der Blockchain aufgrund einer Meinungsverschiedenheit der Teilnehmer. Durch eine weitere Gabelung entstand 2018 Bitcoin SV (BSV). BCH seinerseits verzweigte sich im November 2020 in Bitcoin Cash Node (BCHN) und in Bitcoin Cash ABC (BCH ABC).

Diese Sprösslinge versuchen alle, gewisse Mängel des originalen Bitcoin-Protokolls zu beseitigen, namentlich beschränkte Transaktionsgrössen und mangelnde Skalierbarkeit. Mit ähnlicher Zielsetzung sind ausserhalb des Bitcoin-Stammbaums Tausende anderer Crypto-Currencies — zusammenfassend Alt-Coins genannt — entstanden, wie Ether, Ripple, etc.

Hier geht es nur um die Bitcoin-Familie im engeren Sinn. Hier ist nämlich in der letzten Februar-Woche eine Bombe geplatzt. Ein Australier namens Craig Wright behauptet schon seit längerem, er sei der mysteriöse Schöpfer des Bitcoin-Protokolls, das heisst die wahre Person hinter dem Pseudonym Sakoshi Nakamoto. Sein Anspruch wird in der Szene angezweifelt, hat aber auch Anhänger. Bewiesen hat er einstweilen noch nichts.

Dessen ungeachtet schaltete Craig Wright einen Gang höher: Er beansprucht wie die Financial Times berichtet, das Urheberrecht auf dem Bitcoin White Paper, sozusagen der Geburtsurkunde des Bitcoin. Verklagt werden die Entwickler hinter den Bitcoin-Töchtern BTC, BCH, BCH ABC and BSV mit einem Streitwert von £ 3,5 Mrd.

Der Hintergrund: „Craig-Toshi“ behauptet, Hacker hätten ihm zwei wallets mit seinen Bitcoins gestohlen. Wert (bei heutigem Kurs): £ 3,5 Mrd. Er sucht aber nicht die Diebe, sondern versucht, die Entwickler dazu zu bringen, dass sie die Blockchain gewissermassen zurückdrehen, um sie ab dem Punkt, wo seine Guthaben verschwunden sind, ungültig zu machen. Dies wäre eine „gute“ Variante das berüchtigten 51-Prozent-Angriffs, mit dem eine Mehrheit der Teilnehmer eine bereits „geronnene“ Blockchain wieder auflösen kann. Neuestens wäre er aber auch zufrieden, wenn ihm einfach neue Bitcoins im selben Wert zugeteilt würden. Wie die FT bemerkt: Sowohl die Diebe. als auch das Opfer hätten dann das Geld.

Ob die Copyright-Klage Erfolg haben wird, wissen wir nicht. Eher könnte sie, wie mancher Familienstreit, letztlich allen Mitgliedern schaden. Beispielsweise wurde BSV (für Bitcoin Satoshi Version, ein Versuch, zu den „Wurzeln“ von Bitcoin zurückzukehren), an dessen Entstehung Craig Wright beteiligt war, von der grössten australischen Coin-Börse dekotiert, da die Copyright-Klage als bullying empunden wurde (obwohl — ein weiteres Rätsel — BSV selbst zu den Beklagten gehört).

Die Bitcoin-Familie scheint tatsächlich eine ganz eigene Form des Unglücks gefunden zu haben. Und dass man einen Familienstreit als Aussenstehender nie bis in seine Tiefen verstehen kann, wussten wir schon vorher.

NZZ-Gemüsetrick mit Selbstüberlistung

„Bauern als Preistreiber!“ scholl es einst durch die Lande, als Inflation noch ein Thema war. Was war geschehen? Die meisten Gemüse und Früchte sind aufgrund der jahreszeitlichen Ernteschwankungen im Winter teurer als im Sommer. Nehmen wir als Zahlenbeispiel an, sie waren im Winter doppelt so teuer wie im Sommer. Das heisst: Von Sommer zu Winter steigen die Preise um 100 Prozent, vom Winter zum Sommer sanken sie um 50 Prozent, woraus sich scheinbar eine durchschnittliche Verteuerung von 25 Prozent (100-50 durch 2) ergab. Die Bauern, denen kein entsprechender Cash-Flow im Portemonnaie aufgefallen war, protestierten sofort und mit Erfolg. Die Berechnungsweise des Konsumentenpreisindex wurde entsprechend korrigiert.

Jahrzehnte später serviert die NZZ zum Frühstück den „Gemüse-Trick“ in ihrem Börsenteil. Ziel des Artikels ist, das Halten von Bargeld zwecks Flexibilität (Jargon: als Option) zu begründen. Dies wäre weder falsch noch neu. Nur fällt Autor Patrick Herger in die Gemüsefalle: Er benutzt den Durchschnitt der Prozentsätze (Renditen) anstatt die Renditen des Durchschnitts. .

Konkret: Eine Familie bucht Ferien entweder früh für 500 Franken oder spät für (mit fifty-fifty Chancen) entweder 250 oder 1000 Franken. Klar ist früh zu 500 Franken billiger als spät zu einem Erwartungswert von 625 Franken. Jetzt aber vergleicht der Autor Renditen: Da die Reise ohne Frührabatt oder Last-Minute-Preis 1000 Franken kosten würde, ergibt sich bei Frühbuchung ein Gewinn von 100 Prozent (1000 Franken für 500 Franken); bei Spätbuchung von entweder 300 Prozent (1000 Franken für 250 Franken) oder von null, das sind im Durchschnitt immer noch 150 Prozent. Voilà!

Schon die Verwendung von Renditen ist unglücklich. Anleger haben letztlich lieber Franken als Prozente. Sie maximieren — bei Strafe des langsamen Untergangs — den Wert des Vermögens, nicht erwartete Renditen. Aber richtig schlimm: Der Autor verwendet für seine Prozentsätze (wie beim Sommer- und Wintergemüse) unterschiedliche Basen (einmal 500 Franken, dann 250 Franken).

Abgesehen von den für eine Börsenseite eher unerwarteten Fehlern, wischt der Autor mit seinem einfachen Beispiel auch ein paar weitere Probleme unter den Tisch: Die Familie könnte in Wirklichkeit auch zuwarten und die Reise am Ende gar nicht buchen. Vielleicht taucht ein noch besseres Angebot auf, oder die Tochter bricht sich beim Sturz vom Pferd ein Bein. Der Optionswert des Wartens enthält daher auch eine Versicherungsprämie gegen Überraschungen.

Ich schreibe dies nicht, weil ich an der Fähigkeit von Schweizer Familien zweifle, ihre Ferien auch nach Lektüre der NZZ (rechtzeitig umleiten!) optimal zu buchen. Vielmehr: Der Autor, der selber vor „kostspieligen Fehlern“ warnt, lässt dem verunglückten Ferienbeispiel eine genauso verunglückte Börsenanleitung folgen. Da wird es dann tatsächlich kostspielig. Was, wenn mein(e) Pensionskassenverwalter(in) den Artikel liest und befolgt? Die Forderung nach einem obligatorischen Warnhinweis auf Börsenseiten scheint vielleicht verfrüht. Aber die NZZ, wäre gut beraten, wenn sie sich anscheinend schon kein Finanzlektorat leistet, anspruchsvolle Berechnungen wenigstens vorher dem Schweizerischen Bauernverband vorzulegen.

Lehrverkäufe

Urs Birchler

Vor 200 Jahren prägte der amerikanische Investor Daniel Drew den Satz: „He who sells what isn’t his’n, must buy it back or go to pris’n.“ Einige Hedge Funds und andere professionelle Investoren scheinen diese Warnung vergessen zu haben. Sie verkauften auf Termin Aktien des Spielehändlers Gamestop, die sie selber noch gar nicht hatten.

70 Mrd. US$ sollen sie dadurch verloren haben. Scharen von Kleinanlegern haben sich offenbar via Online-Foren zusammengetan, die Gamestopp-Aktien en masse aufgekauft und dadurch die Leerverkäufer ins Leere laufen lassen (NZZ, TA). Diese müssen sich jetzt zu steigenden Preisen eindecken. 70 Mrd. US$, das ist immerhin ungefähr der Börsenwert von UBS und CS zusammen. Das verliert man nicht jeden Tag.

Finanzbehörden sind alarmiert und bereits erklingt der Ruf nach Regulierung. Vielleicht etwas rasch. Erstens wissen Hedge Funds und andere Professionelle ganz genau, dass Leerverkäufe besonders riskante Geschäfte sind, bei denen man unbegrenzt verlieren kann. Sie brauchen keinen Schutz. Zweitens ist es noch nicht lange her, als die Behörden gerade die Hedge Funds selber als Bösewichte im Visier hatten.

Drittens ist (gute) Regulierung eine Kunst. Dazu zwei Erinnerungen zu Leerverkäufen und Hedge Funds:

  • Eine Sitzung der WAK-SR vor 20 Jahren (ich durfte ein Papier über Finanzderivate vertreten): Ein sonst eher marktfreundliches Mitglied der Kommission wetterte über mein viel zu pessimistisches Papier, meinte aber, eine Geschäftsform würde man am besten gerade sur place verbieten: nämlich die Verkäufe von Titel, die man selber gar nicht hat, vulgo die Leerverkäufe.
  • Die Diskussion im Basler Ausschuss für Bankenaufsicht: Eine Regulierung der Hedge Funds blieb schon am Definitionsproblem stecken. Die Idee, statt von Hedge Funds von Highly Leveraged Institutions zu sprechen, schien die Lösung, bis jemand herausfand, dass die internationalen Grossbanken eine höhere Leverage aufwiesen als die wilderen unter den Hedge Funds.

Die Behörden sollten dem Gamestop-flashmob also eher dankbar sein. Dieser hat für einmal den Dreckjob für die Regulierer erledigt. Wir nehmen an, die neueste Erfahrung sei künftigen Leerverkäufern eine Lehre, das weise Wort von Daniel Drew übers Bett zu hängen. Aber auch die vorübergehenden Gewinner sollten nicht vergessen, dass ein Berg von Dollars, der nur auf der Not klammer Leerverkäufer ruht, seinerseits auf Leere gebaut ist.

Verbot der Staatshilfe an die Kantonalbank

Urs Birchler und Christoph Basten

Der Kanton Glarus hat nichts weniger als eine Pioniertat vor.
Wir haben kürzlich über sein Vorhaben berichtet, die Kantonalbank zu privatisieren. In der Zwischenzeit hat die Glarner Regierung die gesamten diesbezüglichen Unterlagen an den Landrat publiziert. Zu diesen Unterlagen gehört namentlich ein Rechtsgutachten von Prof. Christoph Bühler (UZH) zur Frage der sogenannten impliziten, d.h. nicht ausdrücklich im Gesetz abgestützten Staatsgarantie.

Das Gutachten Bühler nennt drei mögliche Gründe einer Staatshaftung ohne gesetzliche Staatsgarantie:

  1. Haftung aus aktienrechtlicher Verantwortlichkeit (Art. 39 BankG, Art. 754 OR)
  2. Vertrauenshaftung des Kantons (Art. 2 ZGB)
  3. Risiko eines „Faktischen Beistandszwangs“ (keine gesetzliche Verankerung)

Die ersten beiden Risiken sind zivilrechtlicher Natur. Der Kanton kann diese Risiken — immer gemäss Gutachten — minimieren, indem er seine konkreten Einflussmöglichkeiten auf die Geschäftstätigkeit der Bank aufgibt und auf die Formulierung einer eine Eignerstrategie verzichtet. Der Kanton würde sich wie ein gewöhnlicher Aktionär verhalten und sich beschränken auf Wahrnehmung seiner Interessen an der jährlichen Generalversammlung. Ferner wäre im Auftritt sowohl des Kantons als auch der Bank jeder Anschein auf eine Garantie oder Solidarbürgschaft strikt zu vermeiden; zusätzlich wäre sicherheitshalber ausdrücklich im Gesetz festzuhalten, das der Kanton nicht für die Verbindlichkeiten der Bank haftet.

Das drittgenannte Risiko — der faktische Beistandszwang — beruht darauf, dass der Kanton auch ohne ausdrückliche Haftung für die Verbindlichkeiten im Krisenfall versucht sein könnte, die Kantonalbank “freiwillig“ finanziell zu unterstützen, anstatt sie zu liquidieren (siehe dazu auch unser ökonomisches Gutachten. Gegen dieses Risiko empfiehlt das Gutachten Bühler lediglich, im Kantonalbankgesetz vorbeugend eine komfortable Eigenmittel-Ausstattung zu verlangen. Es weist ferner auf den entscheidenden Faktor hin, dass das Bankensanierungs- und -insolvenzrecht des Bundes (bei nicht international verflochtenen Banken) bereits verschiedene Mittel zum Verhindern einer Bankliquidation und einer Kantonshilfe bietet.

Der Kanton Glarus fasst nun aber auch den letzten Schritt ins Auge: Er formuliert in der revidierten Verfassung ein ausdrückliches Verbot von Staatshilfe:

Der Kanton garantiert nicht für die Verbindlichkeiten der Kantonalbank. Eine Unterstützung ist selbst in einer Notlage und anderen Fällen zeitlicher Dringlichkeiten gestützt auf Artikel 99 Absatz 1 Buchstabe d ausgeschlossen.

[Jener Artikel besagt: Der Regierungsrat ist zuständig für … Verordnungen und Verfügungen in Notlagen und andern Fällen zeitlicher Dringlichkeiten, insbesondere zur raschen Einführung von Bundesrecht; diese Erlasse sind sobald als möglich dem Landrat oder der nächsten Landsgemeinde vorzulegen.]

Damit dürfte die Glarner Kantonalbank zur ersten Kantonalbank werden, bei der im Rahmen einer Privatisierung auch die Risiken konsequent privatisiert werden.

Privatisierung der Glarner Kantonalbank?

Christoph Basten und Urs Birchler

Der Glarner Regierungsrat (Exekutive) hat heute dem Landrat (Legislative) eine grundlegende Änderung im Verhältnis des Kantons zur Kantonalbank beantragt. Dies geht hervor aus einer entsprechenden Medienmitteilung.

Kernpunkte sind:

  1. Aufhebung der Staatsgarantie
  2. Umwandlung in eine privatrechtliche Aktiengesellschaft
  3. Aufgabe der Mehrheitsbeteiligung des Kantons

Der Regierungsrat hatte im Juni 2020 eine Vorlage zur Vernehmlassung gegeben. Dies basierte zum Teil auf einem Gutachten, das wir im Herbst 2019 im Auftrag des Departements für Finanzen und Gesundheit verfassten. Die Vernehmlassung ist in der Zwischenzeit abgeschlossen (die einzelnen Eingaben werden anders als beim Bund nicht publiziert) und die Ergebnisse sind in die neue Vorlage eingeflossen.

Diese geht nun in den Landrat (sie wird vermutlich in den nächsten Tagen publiziert). Geändert werden sollen nicht nur das Kantonalbankgesetz. Die Revision erfordert auch eine Änderung der Kantonsverfassung. Daher bedarf sie auch der Zustimmung durch die Landsgemeinde. Dies könnte zu einer Verzögerung führen, falls die Landsgemeinde wegen der Covid-19 Pandemie nicht abgehalten werden kann. Eine schriftliche Abstimmung ist nämlich nicht zulässig, da an einer Landsgemeinde nicht nur JA oder NEIN beschlossen, sondern auch Abänderungsanträge eingebracht werden können.

Wir haben bei der Arbeit an unserem Gutachten vieles gelernt, aber jetzt auch noch etwas zur Glarner und damit zur Schweizer Demokratie.

Willkommen in unserem Vorgarten

Urs Birchler

Die Pläne der Stadt Zürich zur Vergesellschaftung der Grünflächen begrüsse ich sehr. Bloss ist mir nach längerem Nachdenken noch kein Areal eingefallen, welches (a) grün ist, (b) mehr als 10qm misst und (c) nicht schon im Eigentum der öffentlichen Hand wäre. Das Letzigrund-Stadion gehört m.W. der Stadt und könnte schon unter geltendem Recht zum Grillieren, Hundetraining und Bumerang-Werfen freigegeben werden. Dito der Car-Parkplatz hinter dem Hauptbahnhof. Dieser zählt aber vielleicht bei spitzfindigen Bürokraten nicht als Grünfläche. Eigentlich kommt mir als Kandidat nur unser Vorgarten in Zürich Wiedikon in den Sinn, wo doch eine “Rasen“-Fläche von schätzungsweise 5×5 Metern zur Verfügung stünde.

Anbieten kann ich nicht viel: Ich habe nur einen einzigen Rasenmäher, und den Löwenzahn habe ich selber bereits ziemlich ausgejätet. Aber attraktiv wäre es sicher, bei mir am Gartentischchen zu sitzen und meinen fast zu allen Themen fundierten Meinungen zu lauschen („Warnung vor dem Dozenten“), anstatt diese hier bei batz.ch mühsam nachlesen zu müssen.

Unterstützung bräuchte ich von der Stadt. Sie hat ja in bewährter Mafia-Art ihre Hilfe in Form von Beratung angeboten (unentgeltlich, aber kaum ohne Kostenfolge). Dürfen meine Besucher — Gäste darf ich ja nicht mehr sagen, da keine Einladung eforderlich sein wird — auf dem Parkplatz jener Nachbarn parkieren, die weitblickend ihre ver-stadt-lichungsgefährdeten Vorgärten zubetoniert haben? Muss ich für Katzenhaar-Allergiker*Innen ein Warnschild aufstellen? Und was mache ich mit dem WC, welches bei uns nicht ohne Treppensteigen erreichbar ist? Wird mir Blau-Grün Zürich ein Toi-Toi aufstellen? Das darf ich wohl hoffen! Aber eins weiss ich jetzt schon: Drauf stehen wird dann nicht Toi-Toi. Sondern: Moi-Moi!!!

Die Skischuhe des Nobelpreisträgers

Urs Birchler

Den diesjährigen Nobelpreis für Wirtschaft erhielten heute Paul Milgrom und Robert Wilson (beide Stanford). Ein Zusammenfassung ihrer Beiträge können wir uns sparen, das machen andere besser. Beispielsweise The Guardian mit vielen zusätzlichen Links.

Erwähnenswert ist hingegen ein Beispiel für (übertriebene) Bescheidenheit des neugekrönten Robert Wilson: Er habe selber noch nie an einer Auktion teilgenommen, meint er heute früh (3h Lokalzeit) am Telefon mit einem Journalisten. Worauf Frau Wilson aus dem Hintergrund korrigierte: “Doch, Deine Skischuhe haben wir per eBay gekauft!”

Bescheidenerweise (und weil er zu nachtschlafener Stunde wohl keine Vorlesung halten wollte) verschwieg Robert Wilson, dass Auktionen auch unter anderem Namen allgegenwärtig sind, vom Ausverkauf bis zum Architekturwettbewerb. Auf die Frage, welchen ökonomischen Fachartikel ich allen Laien empfehlen würde, habe ich deshalb vor einiger Zeit den Artikel von Paul Klemperer gewählt. Why Every Economist Should Learn Some Auctions Theory. Die Begründung steht hier und macht auch verständlich, weshalb die Auktionstheorie den diesjährigen Nobelpreis verdient hat (nachdem schon 1996 William Vickrey, der Vater des in der Auktionstheorie wichtigen “Revenue Equivalence Theorem” geehrt worden ist.)