Zwölf mal 1:12

Urs Birchler

Heute ist mein Stimmcouvert gekommen: Letzte Gelegenheit, eine Empfehlung zu 1:12 abzugeben.

  1. 1:12 ist ökonomisch falsch: Es gibt zwar grosse Lohnunterschiede in unserer Gesellschaft; es gibt aber ebenfalls Unterschiede in der Produktivität innerhalb derselben Unternehmung. Es gibt sogar innerhalb derselben Berufsgruppe (Programmierer, Fussballer und — richtig: — Wertpapierhändler), Leistungsunterschiede, die ohne weiteres einen Faktor 12 oder darüber erreichen.
  2. 1:12 vernichtet Arbeitsplätze: Die Schweizer Unternehmen stehen direkt oder indirekt (als Zulieferer) voll im internationalen Wettbewerb. Eine Anhebung der tiefen Löhne können sie sich nicht leisten und mit wenigen Ausnahmen liegt auch eine Kürzung der hohen Gehälter (mit Verlust der Leistungsträger) nicht drin. Die Gleichung hat nur eine Lösung: Zumachen oder Abwandern.
  3. 1:12 würgt Individualität ab: Löhne schwanken über den Lebenszyklus. Sportler sind gut von 25-30, Studenten hoffen auf die Zeit von 45-55. Es gibt Praktikant(inn)en, die gratis in Star-Unternehmen (Architektur, Werbung, Forschung) arbeiten, da sie in Form von Reputation oder Erfahrung entschädigt werden. Arbeitslose Spezialisten bezahlen manchmal sogar, damit sie arbeiten dürfen und ihre Fähigkeiten nicht verlieren. Niemand hat etwas davon, wenn wir all dies abwürgen.
  4. 1:12 ist willkürlich: Lohnunterschiede innerhalb einer Firma sind nur ein Teil der gesamtgesellschaftlichen Lohnunterschiede. Es gibt auch Unterschiede zwischen verschiedenen Unternehmen oder zwischen Lohnabhängigen und Selbständigen. Genau zu diesem Zweck haben wir progressive Steuern. Man kann die Progression natürlich flacher oder schärfer machen. Aber Eingriffe ins Lohngefüge selbst sind ein Fremdkörper.
  5. 1:12 verwechselt Unterschiede mit Ungerechtigkeit: Die Ungerechtigkeit liegt nicht darin, dass der Chefchirurg 20 mal mehr verdient als die Pflegehilfe, sondern wenn schon in Unterschieden innerhalb der Berufsgruppen (Mann–Frau, Schweizer–Ausländer, Jung–Alt.)
  6. 1:12 ist Symptombekämpfung: Überrissene Gehälter gibt es vor allem in den Bereichen Banken und Pharma, die von indirekten staatlichen Subventionen profitieren.
  7. 1:12 versucht, die Falschen zu schützen: Überrissene Managersaläre zahlen letztlich die Aktionäre einer Unternehmung. Selber Schuld. Dank der Minder-Initiative können sie künftig ihr Veto einlegen. Dass Jungsozialisten mit 1:12 die Aktionäre beschützen möchten ist allerdings edel; Aktionäre haben nämlich nicht einmal eine Gewerkschaft.
  8. 1:12 schadet trotz Umgehung: Natürlich lässt sich 1:12 umgehen — Aufteilung der Unternehmen, Outsourcing, Verlegung der Unternehmung oder ihrer Teile ins Ausland, Ersatz von Löhnen durch andere Leistungen, etc. Die Beratungsunternehmen dürften sich auf Aufträge freuen. Mit anderen Worten: Umgehung kostet. Wir leisten uns mit 1:12 eine teure Übung, ohne dass sie irgendjemandem etwas bringt.
  9. 1:12 zerstört Vertrauen: Die Attraktivität der Schweiz für Unternehmen (aus dem Ausland und dem Inland) beruht auf der Vorhersehbarkeit der Wirtschaftspolitik. Initiativen wie 1:12 werfen für Investoren die Frage auf: Was kommt noch?
  10. 1:12 ist die Spitze ds Eisbergs: Es kommt nämlich noch einiges, z.B. Mindestlohninitiative, Bedingungsloses Grundeinkommen. In einer Wirtschaft, in der Staatseingriffe uns Suventionen ohnehin wuchern und die Hälfte des BIP durch öffentliche Hände geht, wären wir gut beraten, das Schweizer Erfolgsmodell um 1:12 herum zu navigieren.
  11. 1:12 degradiert die Schweiz zur Werkbank ausländischer Unternehmen. In den 1960er Jahre kritisierte die Linke die globale Wirtschaftsstruktur, weil die Entscheidungzentren in den Industriestaaten sassen; der Dritten Welt blieb nur die „Werkbank“. Mit 1:12 müssten aber Geschäftsleitungen ins Ausland verlegt werden, womit die Schweiz in diesem Sinne zu einem Teil der Dritten Welt würde.
  12. 1:12 wäre eine Kurzschlusshandlung. In einem Satz: Nur weil es Raser gibt, verordnen wir nicht, der Sportwagen dürfe nur 12 mal schneller fahren als der Rollator.

Und wer kann noch für 1:12 stimmen, nachdem er/sie das Interview mit Ernst Fehr gelesen hat?

9 thoughts on “Zwölf mal 1:12

  1. Danke, Herr Prof. Birchler. Danke, Herr Prof. Fehr. Niemand bestreitet, dass viele Ungerechtigkeit empfinden. Doch das soll kein Grund bieten, unausgegorene Ideen anzunehmen. Gut gibt es noch Leuchttürme im Nebel der (politischen) Werbung.

  2. Tja, wenn man das so durchliest, fragt man sich, wie die Schweiz überhaupt durch die 30er, 40er, 50er, 60er, 70er, 80er und einen grossen Teil der 90er Jahre gekommen ist (und das nicht einmal so schlecht), als das Lohnverhältnis der Spitzengehälter zu den Tiefstlöhnen der Betriebe noch unter 8:1 lag. Oder wieso es den Universitäten auch heute gelingt, ihre Lehrstühle (mit ein paar Ausnahmen) mit guten Leuten zu besetzen, obwohl dort das Lohnverhältnis ca. 9:1 beträgt? Oder ob die Chefs der vielen tausend KMU in der Schweiz alles Flaschen sind, da sie nicht 20x oder gar 200x mehr als ihre Sekretärinnen verdienen? Kurz: Ihre Argumente überzeugen nicht.

  3. @ClaudeWagner
    Darf ich Sie auf den Beitrag unseres Kollegen und Mitbatzers Marius Brülhart hinweisen: https://batz.ch/2012/04/land-der-begrenzten-ungleichheiten/
    Die Lohnungleichheiten waren früher noch höher. Nicht nur die Löhne tragen zur Ungleichheit bei, sondern vor allem auch Beteiligungen und Kapitaleinkommen, die nicht vor der Initiative erfasst werden. Die Initiative begünstigt tendentiell letztere, die Einkommensungleichheit wird sie kaum ändern – da sind progressive Steuern sehr viel effizienter.

  4. Ich stimme den Argumenten voll zu, und es gäbe noch weitere, die anzuführen wären, zB. die Mindereinnahmen, welche durch 1:12 für bei unseren Sozialwerken entstehen (und die anderswie durch den Steuerzahler oder Arbeitnehmer finanziert werden müssen) oder ganz einfach die Überregulierung, der Einhalt zu gebieten ist. Wollen wir wirklich jeden Ausreisser mit Gesetzen bekämpfen? Gerade in der CH war und ist es dank der intensiv geführten Diskussion möglich, Ausschlägen mittels Druck beizukommen. So musste kein Gesetz erlassen werden, um die Doppelführung (VRP/CEO) bei Grossunternehmen zu unterbinden. Die öffentlich geführte Diskussion zur Coporate Governance reichte durchaus, um dieses Modell praktisch zum verschwinden zu bringen. Gleiches erreichen wir mit der öffentlichen mMinungsbildung auch auf den Gebiet des Umweltbewusstseins und anderen mehr. Hey, wir sind mündige Bürger!

  5. Die Initiative baut auf der Empörung und der Neidkultur. 1:12 ist ein Gedanke der sehr wohl legitim ist, jedoch mit der freien Marktwirtschaft und der Lohnpolitik globaler Unternehmen zumindest in einigen Fällen nicht zu vereinbaren ist. Die gesetzliche Vorschrft von Löhnen untergräbt das Erfolgsmodell der Sozialpartnerschaft und hebelt diese aus. Der Verwaltungs- und finanzielle Aufwand wäre zudem immens!

  6. Danke für den Link, Frau Bütler. Werde ich mir noch zu Gemüte führen. Ich bin einverstanden mit Ihrer These, dass die Initiative grundsätzlich die Arbeit schwächt und das Kapital stärkt, da sie einseitig nur das Verhältnis der Arbeitseinkommen auf ein vernünftigeres Mass zu begrenzen versucht. Ich warte also gespannt auf eine Initiative der 1:12-GegnerInnen, welche die Einführung einer progressiven Kapitalgewinnsteuer verlangt.

  7. Zu 1.
    Es gilt auch das Umgekehrte: Die Produktivität ist tief, weil die Löhne tief sind. Mit Mindestlöhnen und höheren Preisen für Leistungen heutiger Tieflohnbranchen erhöhen wir die Produktivität.

    Zu 2.
    Der Markt für die Top-Leute ist unvollkommen. Sie schanzen sich gegenseitig die hohen Saläre zu. Auch Leute aus der zweiten Führungsreihe sind in der Regel in der Lage, Top-Positionen zu einem tieferen Lohn auszufüllen.

    Zu 7.
    Grossaktionäre bestimmen über das Schicksal ihrer Unternehmen. Da ihre Vertreter oft selbst zu den Abzockern gehören, haben sie kein Interesse an einer Senkung der Abzockerlöhne in den von ihnen beherrschten Unternehmen.

  8. Ein so starkes Plädoyer würde ich mir von Ihnen unbedingt auch gegen diese unsägliche „Masseneinwanderungs-Initiative“ wünschen. (Bei 1:12 habe ich übrigens aus Sympathie mit Ja gestimmt, aber aufgrund der praktischen Bedenken auf 50,1 % Nein gehofft.) Dass da mit den Kontingenten ein bürokratisches und ineffizientes Planwirtschaftssystem (wieder) eingeführt werden soll, von dem sich die Schweiz aus gutem Grund verabschiedet hat, und dass erschreckend viele zu so etwas auch noch Ja stimmen wollen, ist doch sehr bedenklich. Nein zu solchem Unsinn, wie er hier: https://batz.ch/2010/03/harter-fall-statt-hartefall/ geschildert ist!

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