Zum Stand der ökonomischen Forschung und Lehre

Die Finanzkrise hat die Defizite der heutigen Forschung in Volkswirtschaftslehre und „Finance“ offengelegt. Nur wenige Ökonomen haben vor dem jetzt eingetretenen Szenario gewarnt (z.B. Raghuram Rajan oder der umstrittene Nouriel Roubini; aber auch andere unbekanntere wie Harry Makropolos, welcher im Jahr 2005 (!) der amerikanischen Aufsichtsbehörde SEC geschrieben hat, dass Madoff ein Ponzi-Schema aufbaut). Dieses „Unwissen“ widerspiegelt sich im ökonomischen Curriculum, wie es an den meisten Universitäten gelehrt wird. Ein Student, der z.B. Gregory Mankiw’s Bestseller-Lehrbuch liest, versteht die Mechanismen der jetzigen Situation nicht. Natürlich braucht es Zeit,  bis neuere Forschung geschrieben ist und sich in der Lehre wiederfindet, aber doch illustriert es, dass mehrere „Fault Lines“ (neues Buch von Rajan über die Finanzkrise) in der heutigen ökonomischen Forschung und Lehre existieren.

 Standardisierung der ökonomischen Lehre (und Forschung?) ist ein erstes (kleineres) Problemfeld. Es wäre interessant, zu wissen, wie hoch der Marktanteil von Mankiw’s Buch ist (sehr hoch). Die meisten Programme sind heute austauschbar geworden. Ob ich z.B. in Lausanne oder in Boston studiere, es werden die gleichen Textbücher und Curricula verwendet. Das Internet fördert dies zusätzlich mittels „Plagiarismus“ – ein Dozent nimmt z.B. Übungen von einem anderen Kurs. In Bezug auf das Lernen von „technischen“ Fähigkeiten ist das eine positive Entwicklung (race-to-the-top – es werden dafür die besten Textbücher und Übungen verwendet)  und auch aus Sicht von positiven Skaleneffekten erwünscht (das Rad muss nicht immer wieder neu erfunden werden – allgemein akzeptierte Theorie muss nicht neu geschrieben werden). Ich würde auch nie soweit gehen und behaupten, dass damit ein „homo oeconomicus“ gezüchtet wird, aber die Gefahr besteht, dass Originalität und die innovative Schaffenskraft darunter leidet.

Aktuelle wirtschaftliche Ereignisse widerspiegeln sich selten im Unterricht. Beispiel: Im diesjährigen Doktoratsprogramm der Schweizerischen Nationalbank (Gerzensee) war im Fach Makroökonomie Wirtschaftswachstum (!) und Life-Cycle-Optimierung das Hauptthema – kein einziges Wort zur Finanzkrise oder zur Staatsverschuldung. Das Instrument waren „Rational expectations“-Modelle (richtig, die Modelle, die von rationalen Agenten ausgehen!) und „Dynamic stochastic general equilibrium“-Modelle (DSGE). Letztere waren kürzlich Thema im Ausschuss für Forschung und Technologie des amerikanischen Repräsentantenhauses. Ziel war es, „to question the wisdom of relying for national economic policy on a single, specific model when alternatives are available”.  Natürlich sollten DSGE gelehrt werden – jede Zentralbank verwendet sie (ein Teil des Problems?) -, aber es sollte erwähnt werden, dass es z.B. „agent-based“-Modelle (ABM) gibt (dazu mehr hier). Randbemerkung: Gerzensee zeigt auch, dass das Kopieren von amerikanischen Doktoratsprogrammen nicht funktioniert (in Gerzensee unterrichten nur amerikanische Professoren). US-Studenten beginnen meistens nach einem Bachelor-Studium mit dem Doktorat, Europäer absolvieren zuerst ein Master-Programm. Damit ist der in Gerzensee gelehrte Stoff oft Repetition (da er auf das erste Jahr des amerikanischen Doktorats zugeschnitten ist, welcher hier bereits durch den Master abgedeckt wird). Es wäre generell zu überlegen, die einjährige obligatorische Kursphase der Doktoratsprogramme zu streichen (oder für freiwillig zu erklären). Das würde die Attraktivität eines Doktorats erhöhen. Die Regelzeit eines volkswirtschaftlichen Doktorats dauert mit vier Jahren zu lange – und die Kursphase hilft meist wenig bei der eigentlichen Dissertation.

Es kommt auch selten vor, dass wirtschaftliche Neuigkeiten im Unterricht diskutiert werden. Ökonomiestudenten wurden sicherlich mehrmals von ihren Kollegen gefragt: „ Erkläre uns die Finanzkrise! Sollen die Staatsausgaben zurückgefahren werden oder führt das zu einer Rezession? Vielen fällt die Antwort schwer (was sie real natürlich auch ist). In der akademischen Welt besteht kein Anreiz, sich mit aktuellen Ereignissen auseinanderzusetzen. Generalisten gibt es an wirtschaftlichen Fakultäten immer weniger. Wirtschaftspolitik ist ein Nischenfach (und Wirtschaftsgeschichte komplett vom Radar verschwunden).

Für eine akademische Karriere zählt allein die Forschung (gemessen an Publikationen in Journals), die Lehre und breites Allgemeinwissen steht da oft im Weg. Zwar gibt es mittlerweile an manchen Universitäten „Teaching Awards“, aber das reicht nicht (siehe hier zur Problematik von Dozentenpreisen). Darunter leiden die Studierenden – und damit die Zukunft. Fortgeschrittene Makroökonomie z.B. wird immer noch so unterrichtet als gäbe es keine Mathematik-Software, d.h. endlose Algebra und wenig Intuition und Diskussion, was die hergeleiteten Formeln bedeuten. Teilweise werden auch dieselben Modell zuerst auf Grundstufe, dann Bachelor- und später auf Masterstufe wiederholt (z.B. das Solow-Modell). Beliebt ist auch die „Kochfernsehen-Methode“ (Sergio Rebelo): Die einfachen Dinge extensiv erklären und die schwierigen überspringen – am Ende kann es niemand „nachkochen“.

Die Volkswirtschaftslehre ist „englisch“, viele Master-Programme (in den Niederlanden sogar Bachelor-Studiengänge) werden nur noch auf Englisch unterrichtet und alle Top-Journals erscheinen in der Sprache der Angelsachsen. Der Fokus ist Amerika, obwohl sich das in den letzten Jahren geändert hat. Europäische Universitäten können immer mehr Top-Professoren anziehen – seit der Finanzkrise hat sich das aufgrund der teilweisen prekären Finanzsituation mancher US-Universitäten sogar noch verstärkt (junge Akademiker auf dem „job market“ sind wahrlich nicht zu beneiden). Ich verurteile die sprachliche Dominanz gar nicht – es ist eine normale Entwicklung und fördert den akademischen Austausch -, unproblematisch ist es aber nicht. Der (ökonomische) Wortschatz in der Muttersprache geht verloren (hören Sie mal zu, wenn zwei Ökonomie-Studentinnen zusammen lernen – es ist „denglish“).  Für politische Einflussnahme im Heimatland ist die Sprachfertigkeit sehr wichtig.

Die Bologna-Reform hat die Anzahl der Prüfungen massiv erhöht. Ökonomische Theorie und Empirie veranschaulicht, dass nicht immer auf Geld für Belohnung oder Bestrafung gesetzt werden sollte (das ist eine der Lehren aus der Finanzkrise). Bezahlung dafür, dass Kinder den Abwasch machen, ist kontraproduktiv. Eine Kinder-Eltern-Beziehung lässt sich nicht durch den Marktmechanismus regeln. Freakonomics zitiert eine Studie, in der Eltern eine Busse bezahlen mussten, wenn sie ihre Kinder am Abend zu spät von der Kinderkrippe abholten. Was passierte nach Einführung der Busse? Der Prozentsatz der Eltern, die zu spät kamen, ist…gestiegen. Vorher war eine Verspätung unsozial, jetzt wird die Kinderkrippe ja dafür „entschädigt“. Analog verhält sich die Situationen mit Prüfungen: Exzessive Prüferei als Anreiz zum Lernen unterdrückt die intrinsische Motivation der Studenten. Sie ist auch eine Verschwendung von Ressourcen: a) es kostet sehr viel Geld (allein die Korrektur der Mathematikprüfung des zweiten Semesters an der HSG z.B. nimmt offiziell 240 Stunden in Anspruch – dafür bräuchte 1 Person 6 Monate); b) der Grenznutzen des Prüfungslernens (und auch von Prüfungen) ist oft gering (um eine gute Note zu erhalten, braucht es oft unnötiges Repetieren und strategisches Lernen – ja, ich weiss: „repetitio est mater studiorum“).  Ein zusätzliches Problem ist die Vergleichbarkeit von Prüfungsnoten: Noten werden oft relativ zu Klassenkameraden gemacht. Jemand mit einer schlechten Note in einem ausgezeichneten Jahrgang kann besser sein als ein anderer mit einer guten in einem schlechten. Und Notenvergleiche zwischen Universitäten sind fast unmöglich. Noten sind damit ein schlechtes Signal für die wirklichen Fähigkeiten. Bis zum Jahr 2007 verbot die Harvard Business School die Offenlegung der Noten seiner Absolventen aus genau diesem Grund. Die Begründung für die Aufhebung des Verbots: „We want to be sure we provide positive incentives for students in a way that helps them to make the most of their time at HBS.” Dieser Satz spräche eher für eine Fortführung des Verbots. Der Geschäftsmann und Bergsteiger Yvon Chouinard hat einmal gesagt: „Living an examined life sucks“ (ja!). Universitäten leben heute mehr von der Devise „an unexamined life is not worth living“ (Sokrates – aber: lieber eine lehrreiche Fragestunde mit ihm über mein Leben als eine langweilige Prüfung).

Um in der Schweiz in ein Doktoratsprogramm aufgenommen zu werden, muss ein GRE (graduate records examination) absolviert werden (unabhängig vom Notenschnitt). In der Theorie ist es ein Intelligenztest (die geprüfte Mathematik ist auf Progymnasium-Niveau – d.h. nicht das der Test einfach ist!), aber natürlich ist er zum grossen Teil lernbar (das kostet aber  Zeit). Der GRE wir von einer privaten Firma angeboten und kostet ca. 300 Franken (dazu kommen Fahrtkosten, da der Prüfungsort einzig Genf ist). Bei amerikanischen Universitäten mit vielen internationalen Bewerbern kann das noch nachvollzogen werden, in der Schweiz bewerben sich aber vor allem Schweizer und Europäer, deren Master-Programme bekannt sind (und damit auch das Niveau einer zukünftigen Doktorandin). Ein GRE als zusätzliche Hürde ist unnötig.

Es ist eine spannende Zeit, um Ökonomie zu studieren und zu forschen. Die grosse Depression der 1930er Jahre hat zur Keynesianischen Revolution (Geburt der modernen Makroökonomie) geführt. Die Ölkrise im Jahr 1973 und die darauffolgende Stagflation (gleichzeitig hohe Inflation und hohe Arbeitslosigkeit) hat die Mängel dieser Theorie aufgezeigt und u.a. zum Aufstieg des Monetarismus (Friedman) und der neuen klassischen Makroökonomie geführt. In den 1980er Jahren entwickelten Kydland und Prescott die Theorie realer Konjunkturzyklen. Im letzten Jahrzehnt des vorigen Jahrhunderts entstand die neue neoklassische Synthese (Kombination keynesianischer und klassischer Theorie). Wie wird sich die Volkswirtschaftslehre post Finanzkrise weiterentwickeln?

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