Zu Selbstbeteiligungen in der Krankenversicherung

Moralisches Risiko wird oft als einer der Gründe für die hohen Gesundheitsausgaben genannt. Moralisches Risiko ist der Fachausdruck, dass die Leute mehr Gesundheitsleistungen konsumieren, desto tiefer der Preis ist – sprich je höher die Versicherungsabdeckung. Bis zu einem gewissen Grad ist moralisches Risiko erwünscht: Erst eine Versicherung ermöglicht den Patienten Behandlungen, die ihre finanziellen Mittel übersteigen würden (siehe hier). Problematisch ist es, wenn unnötige Gesundheitsleistungen nachgefragt werden („ich bezahl ja nichts, also mach ich doch auch noch ein MRI“). Dann führt moralisches Risiko zur „Ausbeutung der Krankenversicherung durch ihre eigenen Mitglieder“ (Jürg Sommer). Selbstbeteiligungen sollen moralisches Risiko eindämmen. Ein optimaler Krankenversicherungsvertrag muss abwägen zwischen möglichst hoher Risikoübernahme und den Verlusten aufgrund von exzessiver Nachfrage (Verschwendung).

Sind höhere Selbstbeteiligungen das Wundermittel, um Kosten zu sparen? Ich zweifle ernsthaft daran, d.h. allerdings überhaupt nicht, dass sie unwichtig sind. Im Zentrum aber sollte die Angebotsseite stehen. Hier meine Argumente:

– Die meisten (empirischen) Studien zeigen, dass die Nachfrage nach Gesundheitsleistungen (im Gegensatz zu anderen Gütern) nur schwach auf den Preis reagiert. Je höher die Notwendigkeit (z.B. Spital), desto geringer sind die Nachfrageelastizitäten. Je nach Abdeckung liegen letztere zwischen -0.1 und -0.2 (10 % höherer Preis führt zu 1 % bis 2 % tieferer Nachfrage). (Wer interessiert ist: ich habe eine Zusammenfassung dieser Studien verfasst: Email).

– Höhere Selbstbeteiligungen verändern nicht nur das Verhalten der Nachfrager, sondern auch das der Leistungserbringer. Stichwort angebotsinduzierte Nachfrage. Plump gesagt: Gehen weniger Leute zum Arzt (aufgrund höherer Kostenbeteiligung), könnte der Mediziner pro Konsultation mehr Leistungen anbieten (um auf sein voriges Einkommen zu kommen). Ökonometrische Studien fassen diesen Effekt nicht, da sie oft nur ein kleines Experiment anschauen (z.B. höhere Selbstbeteiligung bei nur einer Krankenversicherung).

– Im schlimmsten Fall könnten höhere Selbstbeteiligungen die Gesundheitskosten sogar erhöhen. Dann nämlich, wenn weniger präventive Gesundheitsleistungen nachgefragt werden. Das berühmte (häufig falsch zitierte) RAND Experiment hat zwar gezeigt, dass sich im Durchschnitt kurzfristig der Gesundheitszustand nicht verschlechtert hat, allerdings waren Personen älter als 65 vom Experiment ausgeschlossen. Und: Ärmere Leute waren kränker je höher die Kostenbeteiligung. Diese Studie (von mir noch nicht gelesen) findet, dass höhere Beteiligungen für ambulante Leistungen bei älteren Personen die Spitalkosten erhöhen.

– Höhere Selbstbeteiligungen unabhängig vom Einkommen sind „unsozial“. Ärmere Menschen sind kränker (sozioökonomischer Gradient). Gerade letztere reagieren aber elastischer als finanziell Bessergestellte.

– Ca. 80 % der Kosten werden von 20 % der Versicherten verursacht. Die höchsten Kosten fallen in den letzten zwei Jahren des Lebens an. Hier haben höhere (traditionelle) Selbstbeteiligungen keine Wirkung.

– Die meiste Forschung über Kostenbeteiligungen stammt aus den 1970 und 1980ern. Gesundheitsökonomen untersuchen heute mehrheitlich andere Bereiche (Stichwort Angebotsseite). Weil höhere Selbstbeteiligungen doch nicht das Wundermittel sind?

Dass Selbstbeteiligungen aber durchaus diskutiert werden sollen, zeigen Kleef et al. mit einem interessanten Vorschlag. Das Problem mit bisherigen Franchisen ist, dass die Grenzpreise null sind für kranke Menschen oder für Leute, deren Gesundheitskosten über dem Franchisebetrag liegen. Für chronisch Kranke hat eine Franchise z.B. überhaupt keinen Einfluss auf die Nachfrage nach Gesundheitsleistungen. Kleef et al. schlagen deshalb „versetzte“ Franchisen vor. Diese Franchisen liegen im Bereich [s(i), s(i) + f] anstelle von [0, f], wobei s(i) grösser als null ist und von individuellen Charakteristiken abhängt. Der Betrag, bei welchem die Franchise beginnt (s(i)), wird so gewählt, dass die Varianz (ein Mass für Unsicherheit) der Selbstzahlungen maximiert ist. Je kränker eine Person, desto höher ist s(i). In der Praxis wäre es natürlich zu umständlich, s(i) für jedes Individuum separat zu berechnen und eine Differenzierung nach Gruppen sinnvoller. Kriterien für s(i) könnten das Alter und der Gesundheitszustand sein. Ein anderer Vorschlag: Eine hohe Selbstbeteiligung auf Originalpräparaten (für welche es Generika gibt), könnte zu vermehrter Verwendung von Generika führen.

Innovative Vorschläge zur optimalen Krankenversicherungsabdeckung sind wichtig (extrem: „individual health accounts“ zusammen mit „catastrophic health insurance“; dazu hier). Um wirksam Kosten einzusparen, sollte aber vor allem auf der Angebotsseite angesetzt werden. Wie können die 20 % der teuersten Versicherten möglichst effizient behandelt werden (hier besteht ein grosser Hebel)? Wie müssen die Anreize für Leistungserbringer und die Pharmaindustrie gesetzt werden? Wie kann der Risikoausgleich verbessert werden? (der neue wird wohl kaum genügen – das neue Kriterium korreliert stark mit den alten). Wie kann das Lobbying der Gesundheitsindustrie im Parlament eingedämmt werden? Wie steht es mit der heiklen Frage nach Rationierung?

Addendum: Wer sich für die Pharmaindustrie interessiert, dem empfehle ich folgendes Buch: The Truth About Drug Companies. Die Autorin ist die ehemalige Herausgeberin des renommierten New England Journal of Medicine.

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