Marius Brülhart und Thomas von Ungern-Sternberg
Doppelmoral in Bundesbern: Für die Arbeitnehmer hat die Regierung schnell und pragmatisch ein engmaschiges Corona-Auffangnetz ausgebreitet; aber wenn es darum geht, KMU durch die Krise zu retten, triumphiert Ideologie über Pragmatismus.
Es sollen nämlich nur diejenigen Unternehmen überleben, deren Gewinnmargen hoch genug sind, dass sie den Umsatzeinbruch (abzüglich der staatlichen Lohnbeiträge) selber wettmachen können. Die anderen mögen über die Klinge springen. Der Economiesuisse-Präsident schaut der resultierenden „natürlichen Strukturbereinigung“ gelassen entgegen, und unser Finanzminister warnt gar vor „Strukturerhaltung“. In Kommentarspalten wird von „reinigendem Gewitter“, „natürlicher Auslese“ und „schöpferischer Zerstörung“ geschrieben.
Dieses Zurückgreifen auf Floskeln des Wirtschaftsdarwinismus ist in der jetzigen Situation nicht nur moralisch unanständig, es ist auch wirtschaftlich hoch riskant.
Darwinismus heisst eigentlich, dass derjenige überleben soll, der seiner natürlichen Umgebung besonders gut angepasst ist, und nicht derjenige, der zufälligerweise weit weg vom Meteoriteneinschlag am Grasen war. Breiten Teilen der Wirtschaft sind über Nacht die Einkommen auf Null gedrückt worden, nur weil dort Distanzregeln zwischen Menschen nicht eingehalten werden können und sie nicht überlebensnotwendige Güter produzieren. Eine „Strukturanpassung“ in Form eines Massensterbens von Betrieben in diesen Branchen wäre nur zerstörerisch; schöpferisch wäre daran nichts.
Aber nicht nur zwischen mehr und weniger Corona-gebeutelten Branchen unterscheiden sich die Überlebenschancen, sondern auch innerhalb der jeweiligen Branchen. Wer überlebt, wenn der Umsatz einbricht aber Fixkosten weiterlaufen? Die Fittesten und Besten? Nicht unbedingt. Überleben werden primär diejenigen, die über ein gutes Kapitalpolster verfügen. Bisweilen eher “survival of the fattest” als „survival of the fittest“.
Die volkswirtschaftliche Fitness eines Unternehmens misst sich nämlich nicht an seinem Gewinn sondern an seiner Wertschöpfung – in etwa der Summe von Gewinn und Löhnen. Gemäss Steuerstatistik weisen 57% der Schweizer Firmen keine steuerbaren Gewinne aus. Wichtig sind diese dennoch. Ein Restaurant, das null Gewinn verbucht aber eine halbe Million an Löhnen generiert, ist volkswirtschaftlich nicht weniger wertvoll als eine Softwarefirma, die eine Viertelmillion Gewinn ausweist und eine Viertelmillion an Löhnen auszahlt.
Die Schweizer Wirtschaftspolitik ist derzeit darauf ausgerichtet, Firmen, die den Corona-Ausfall auf Fixkosten nicht selber stemmen können, zugrunde gehen zu lassen. Wenn ein Betrieb sechs Monate Totalausfall verkraften muss und 40% seiner Kosten auf Posten wie Miete und Abschreibungen anfallen, dann gälte es in den folgenden fünf Jahren jeweils 4% des Gesamtumsatzes zur Schuldentilgung aufzubringen. Bei einem Jahr Ausfall, wären es dann 8% des Umsatzes, der für Corona-Schuldentilgung draufginge. Das werden sich viele nicht antun (können). Kein Wunder gibt über die Hälfte der Selbständigerwerbenden und Kleinbetriebe an, nicht mehr als drei Monate im Lockdown überleben zu können.
Unternehmen mit tiefen Margen an den Corona-Umsatzeinbussen scheitern zu lassen, wäre aus drei Gründen falsch. Erstens, weil damit Wertschöpfung in Form von Löhnen verloren geht. Zweitens, weil die Wirtschaft ein vernetztes System ist und Konkurse einzelner Firmen andere Firmen (Zulieferer und Abnehmer) mit in den Strudel reissen. Und drittens, weil die überlebenden Firmen dann mit weniger Konkurrenz wirtschaften und ihre Margen noch höher schrauben könnten. Die Fetten würden fetter, aber die Wirtschaft als Ganzes würde unnötig schrumpfen.
Ohne etwas gegen die politische Stossrichtung des Beitrags einwenden zu wollen – im Gegenteil, ich halte den Beitrag auf dieser Ebene für durchdacht und lesenswert: Der Darwinismus-Aufhänger ist ein Ärgernis. Dies ist nur schon deshalb der Fall, weil der Darwinismus mit „sollen“ bzw. Normativität, anders als Sie schreiben, nichts zu tun hat.
Der Darwinismus ist ein plausibles und empirisch gut begründetes Erklärungsmodell für die Entwicklung der Lebensformen. Er ist kein normatives oder politisches (Handlungs-)Modell. Hier geht es um die willkürliche Bevorzugung/Benachteiligung bestimmter Interessen: eine politische, von mir aus auch regulatorische oder institutionelle Frage. Es gibt in meinen Augen keinen vernünftigen Grund, sich auf einen sozialdarwinistischen Schönheitswettbewerb einzulassen.
Danke für Ihren Kommentar, Herr Brühwiler. Der eigentliche, naturwissenschaftliche Darwinismus ist in der Tat beschreibend. Aber in den Sozialwissenschaften hat der Ausdruck nun mal eine normative Konnotation verpasst bekommen. Wir benutzen den Term bewusst etwas provokativ und wollen unseren Wirtschaftspolitikern damit keineswegs sozialdarwinistische Anwandlungen im dunkelsten Sinne des Terms unterstellen.
Lieber Herr Brülhart, die Polemik in der Passage zum Darwinismus habe ich schon mitgeschnitten. Mein Anliegen war, die Problematik dieser Polemik herauszustellen. Sie reproduziert das Muster des Kritisierten: Wirtschaft (bzw. Gesellschaft) zu naturalisieren, um ihr aber sogleich, indem deutlich wird, dass sie sich nicht ihrer mutmasslichen Natur gemäss verhält, auf die Sprünge helfen zu wollen. Das ist eine Position, die intellektuell kaum zu halten ist. Deshalb schiene es mir ratsam, dieses Spiel auch rhetorisch-polemisch nicht mitzuspielen. Ihres Argument fällt ja auch ohne diese Textteile substantiell aus. Man müsste sich höchstens etwas deutlicher eingestehen, dass wir es mit Fragen zu tun haben, gegen deren politischen Charakter man sich nicht ohne Weiteres wissenschaftlich immunisieren kann.
Es ist empirisch eindeutig belegt, dass es in der Vergangenheit einen sozialwissenschaftlichen und leider auch einen politischen Darwinismus gab („Sozialdarwinismus“). Die Verwendung des Begriffs im Artikel ist aus meiner Sicht korrekt.