Urs Birchler
Nichts wird in der Diskussion zur künfteigen Bankenregulierung so oft wiederholt wie der Satz “Die Finanzierung durch Eigenmittel ist teuer”. Und nichts ist so falsch.
Die Elementarteilchen der Finanzierung
Eine Unternehmung gibt zur Finanzierung ihrer Anlagen 100 Anteilscheine, nennen wir sie Bons, im Nominalwert von je 1 aus. Die Bons sind numeriert von 1 bis 100. Diese “Startnummern” geben die Reihenfolge an, in der die Bons bei Fälligkeit zurückbezahlt werden. Zuerst kommt Bon_1, dann Bon_2, etc., immer solange die Unternehmung noch etwas hat. Der erste Bon, der nicht mehr voll zurückbezahlt werden kann, bekommt den vorhandenen Rest. Kann die Unternehmung alle Bons zurückzahlen, erhält Bon_100 als letzter alles, was noch übrig ist.
Um die Bons im Markt unterzubringen, muss die Unternehmung für jeden Bon eine risikogerechte Rendite bieten. Bon_1 ist praktisch risikolos, bekommt also nur den herrschenden Zinssatz auf risikolosen Anlagen. Ab Bon_2 kommt eine zuerst winzige, aber mit jedem Bon leicht ansteigende Risikoprämie dazu. Bon_100 schliesslich ist mit der grössten Verlustwahrscheinlichkeit aller Bons verbunden. Wer Bon_100 hält, geht schon bei einem kleinen Unternehmensverlust leer aus, das heisst, wenn die Anlagen der Unternehmung bei Fälligkeit der Bons noch 99 statt 100 wert sind. Auf Bon_100 muss die Unternehmung die höchste Rendite aller Bons in Aussicht stellen.
Die Kapitalstruktur
Der Ausdruck “Bons” wurde gewählt, da er nicht suggeriert, was Eigen- und was Fremdkapital ist. Klar, Bon_1 “riecht” nach Fremdkapital, Bon_100 nach Eigenkapital. Alle Bons dazwischen sind – in unterschiedlichem Grad – ein bisschen von beidem. Die sogenannte Kapitalstruktur der Unternehmung (Verhältnis von Fremd- zu Eigenkapital, die sogenannte leverage) ergibt sich jedoch erst durch die Verteilung der Bons auf die einzelnen Geldgeber.
Fall A: Herr Scheu kauft die Bons von 1 bis 80. Frau Wild kauft jene von 81 bis 100. Das Paket von Herrn Scheu stellt Fremdkapital dar, da es vorrangig zurückbezahlt wird. Frau Wild bekommt, was übrigbleibt: Ihr Paket ist Eigenkapital. Die Kapitalstruktur der Unternehmung besteht also aus 80 Prozent Fremdkapital (Herr Scheu) und 20 Prozent Eigenkapital (Frau Wild).
Fall B: Herr Scheu kauft die Bons von 1 bis 50, Frau Wild die riskantere Hälfte von 51 bis 100. Die Kapitalstruktur besteht also aus je 50 Prozent Fremd- und Eigenkapital.
Bereits hier wird sichtbar: Eigenkapital ist nicht in beiden Fällen dasselbe: In Fall A enthält es die 20 riskantesten Bons; in Fall B zusätzlich 30 weniger riskante Bons.
Die Finanzierungskosten
Aus Sicht der Unternehmung interessieren deren gesamten Finanzierungskosten, d.h. die Rendite, die sie für alle auszugebenden Bons insgesamt in Aussicht stellen muss. Was kommt billiger: Kapitalstruktur A der B?
Offensichtlich ist, dass Herr Scheu in beiden Fällen je die geringere Rendite bekommt als Frau Wild. Sein Paket ist in beiden Fällen sicherer als ihres. Mit anderen Worten: Fremdkapital ist für die Unternehmung in der Momentaufnahme immer billiger als Eigenkapital. Dies ist das Argument gegen strengere Eigenmittelvorschriften, das von Bankenvertretern, Medien und sogar vom Bundesrat vorgebracht wurde.
Der Trugschluss
Doch genau hier beginnt einer der populärsten und fatalsten Irrtümer der Finanzierungsdiskussion. Wenn “Fremdkapital” billiger ist als “Eigenkapital”, so lautet der Trugschluss, dann sind die Finanzierungskosten der Unternehmung in Fall A (mit 80 Prozent Fremdkapital) geringer als im Fall B (mit 20 Prozent Fremdkapital). Die Falle liegt in der Sprache: “ Eigenkapital” bedeutet, wie erwähnt, nicht in beiden Fällen dasselbe: In Fall B enthält das Eigenkapital zusätzlich zu Fall A die Bons mit den Nummern 51 bis 80. Umgekehrt sind diese in Fall B nicht im Fremdkapital enthalten. Entsprechend bedeutet auch “Fremdkapital ” nicht in beiden Fällen dasselbe. Daraus folgt: In Fall A sind sowohl Eigenkapital als auch Fremdkapital riskanter und damit teurer als in Fall B. Mehr oder weniger Eigenkapital bedeutet immer auch anderes Eigenkapital. Eine Mengenänderung ist gleichzeitig eine Qualitätsänderung. Dies übersehen die Vertreter(innen) der teuren Eigenmittel.
Die Unabhängigkeit der Kosten von der Kapitalstruktur
Die Pointe kommt aber erst noch: In der Wirkung auf die Finanzierungskosten kompensieren sich die Qualitätsänderung und die Mengenänderung genau: Die Finanzierungskosten ändern sich nicht, wenn sich das Verhältnis von Fremd- zu Eigenkapital (die leverage) ändert. Dies mag auf den ersten Blick erstaunen. Die Sache ist aber in der Sichtweise der Bons trivial: Ob die Bons mit den Nummern 51 bis 80 in einem Paket zusammen mit den Nummern 1-50 (bei Herrn Scheu) liegen oder in einem Paket zusammen mit den Nummern 81-100 (bei Frau Wild), hat auf ihre Renditen keinen Einfluss. Die Renditen müssen in beiden Fällen die Risiken der einzelnen Bons abdecken. Die Finanzierungskosten der Unternehmung hängen daher offenkundig nicht davon ab, wie die Bons in einzelne Pakete verpackt sind. Dies gilt auch bei komplizierteren Finanzierungsstrukturen wie im folgenden Fall C.
Fall C: Herr Scheu hält die Nummern 1 bis 70, Frau Wild jene von 90 bis 100, und Familie Mezzanini jene von 71 bis 90. Familie Mezzanini hat also eine nachrangige Anleihe. Auch in dieser komplizierteren Kapitalstruktur gilt: Die Kosten aller Bons für die Unternehmung sind immer noch dieselben. Die Finanzierungskosten hängen vom Risiko der Anlagen der Unternehmung ab, nicht davon wie die (individuell risikogerecht entschädigten) Bons von den Geldgebern gebündelt werden.
Hartnäckige optische Täuschung
Dennoch scheint die verbreitete Auffassung “Fremdkapital ist billiger als Eigenkapital” fast unerschütterlich. Als Momentaufnahme stimmt sie sogar. Aber im Vergleich zweier Finanzierungsstrukturen stimmt sie nicht! Der Satz “mehr Fremdkapital und weniger Eigenkapital ist billiger als weniger Fremdkapital und mehr Eigenkapital” ist falsch. Die optische Täuschung beruht darauf, dass Eigenkapital nicht gleich Eigenkapital und Fremdkapital nicht gleich Fremdkapital bleibt, wenn der Finanzierungsschlüssel ändert. Für diese im Grunde fast triviale Erkenntnis aus dem Jahr 1958 haben Franco Modigliani und Merton Miller 1985 den Nobelpreis erhalten.
Staatliche Verbilligung des Fremdkapitals
In die Diskussion über die Eigenmittelanforderungen für Banken ist “Modigliani-Miller” auch nach vierzig Jahren noch nicht tief eingesickert. Dies hat verschiedene Gründe:
Erstens behandelt der Staat Fremdkapital bevorzugt: Die Zinsen auf Fremdkapital dürfen vom steuerbaren Einkommen abgezogen werden. Die Finanzierung kommt also umso billiger, je mehr Bons im Portfeuille von Herrn Scheu liegen.
Zweitens verzerrt die Systemrelevanz: Banken mit impliziter Staatsgarantie bekommen ihr Fremdkapital günstig (ohne Riskoprämie). Am liebsten würden sie sich deshalb zu 99 Prozent mit Fremdkapital finanzieren.
Drittens geben tiefe Eigenkapitalquoten den Bankverantwortlichen mehr Spielraum für Wachstum, Abenteuer und Boni.
Wann ist genug?
Verständlich ist, dass Bank-CEOs die Subventionierung ihres Fremdkapitals und ihrer Risiken durch den Staat gerne annehmen. Ihrem Aktionariat sind sie es fast schuldig. Verständlich wäre es gleichzeitig, wenn sich die Eidgenossenschaft mit strengen Eigenmittelvorschriften dagegen wehrte. Ihren Steuerzahlern — den Sugar-Daddies und -Mommies der Banken — wäre sie es schuldig.