Urs Birchler
Jetzt glaubten wir, 2016 wird alles besser. Doch die NZZ belehrt mich schon in der ersten Ausgabe eines besseren: Der Gastkommentar Gedanken über reife und unreife Wissenschaft von Eduard Kaeser betreibt schon wieder ein Ökonomenbashing übelster Sorte. Nachdem
wir uns hier schon vor einem Monat gegen die Ökonomenverhetzung in der NZZ gewehrt haben, muss ich nochmal ran. (Grandios hingegen wie immer die Karikatur von GUT!).
Nun sind wir ja als Zunft nicht too-big-to-shame. Aber dieses Muster macht mich noch krank: Zuerst wird ein Strohmann aufgebaut, hier eine Ökonomie, die es nie gegeben hat. Dann wird dieser lächerlich gemacht (der Ausdruck „Mainstream“ fehlt auch hier nicht), weil bei jeder Modellierung (Vereinfachung) zwangsläufig von einem Teil der Realität abstrahiert werden muss. Zum Schluss wird eine leuchtende, aber vage Utopie versprochen. Hier: Die revolutionäre Einsicht, wonach die Oekonomie Teil der Anthropologie sein solle. Sie stellte dann nämlich „den Menschen, wie er leibt und lebt, ins Zentrum des ökonomischen Universums“. (Literatur und Medizin fänden wohl auch gleich noch eine Heimat.)
Der Text von Eduard Kaeser beruht (gelinde gesagt) auf einem Artikel des niederländischen Journalisten Joris Luyendijk im Guardian. Streckenweise ist er nicht mehr als eine Übersetzung. (Die Wiedergabe des Textes über Alan Greenspan ohne Kennzeichnung der Quelle würde in einer Bachelor-Arbeit an unserem Institut nicht toleriert.)
Dort, wo Kaeser den einzigen eigenen Gedanken wagt, geht es schief. Er schreibt: „Wenn Simulationen einen Herdentrieb bei Börsenhändlern feststellten, hätte man diese Erkenntnis nicht auch aus direkten Beobachtungen und «Feldstudien» auf Börsenplattformen gewinnen könnnen?“ Einerseits wurde dies selbstverständlich von Dutzenden Autoren gemacht seit Issac Newton seinem in der South Sea Bubble verspielten Geld nachtrauerte: „I can calculate the motion of heavenly bodies, but not the madness of people.“ Andererseits kann man eine spekulative Verirrung, wie sie durch Herdentrieb zustande kommen kann, nur sauber untersuchen, wenn man den echten (im Jargon: den fundamentalen) Wert des fraglichen Gutes kennt. Und genau dies ist ausserhalb eines gut konzipierten Labor-Experiments schwer zu erreichen.
Liebe NZZ: Bei jeder weiteren Pauschalhetze gegen Ökonomen werde ich hier aufjaulen. Das ist jetzt mein nachträglicher Neujahrsvorsatz. (Der Originalitätsgrad der Artikel könnte jedoch auch in house, vor dem Druck, geprüft werden.)
Danke für diesen Beitrag, Herr Birchler,
Ich bin selbst Doktorand der VWL an der ETH und habe mich sehr über diesen Artikel geärgert. Ihrem Kommentar habe ich nichts hinzuzufügen.
Mit besten Grüssen
Paradigmatische Pluralität tut not
„Der vorherrschenden Ökonomik fehlen konzeptionell
Mass und Mitte. Allein darin besteht das
Problem. Sie votiert stets für Ökonomisierung,
niemals dagegen oder für deren Relativierung.
Dies findet seinen theoretischen Niederschlag
in ökonomischen Theorien für praktisch jeden
Lebensbereich: die Bildung, die Politik, das Recht,
die Familie, die Umwelt, die Moral. Die ökonomische
Theorie ist eine «imperialistische» Wissenschaft,
wie sie selbst bekennt. Darin besteht ihr
Argumentieren «aus ökonomischer Sicht».
Dies allerdings ist eine verfehlte, jedenfalls
hinterfragungswürdige wirtschaftsethische Position.
Daher bedarf es dringend einer pluralistischen
Öffnung der Wirtschaftswissenschaften,
sodass der argumentative Streit über die ethisch
richtige Auslegung der marktwettbewerblichen
Interaktionsverhältnisse und den Status der
Marktlogik wieder zu einem normalen Bestandteil
des wirtschaftswissenschaftlichen Diskurses
wird.“ (U.Thielemann, Homo oeconomicus ist das Allerheiligste der Volkswirtschaft, Die Volkswirtschaft Nr. 8-9 2015, Seite 29)