Vor lauter Krippengezänk den Kindergarten vergessen

Monika Bütler

Meine zweitletzte NZZaS Kolumne, publiziert am 16. Juni 2013 unter dem Titel „Es stimmt etwas nicht mit der Betreuung unserer Kinder: Warum braucht eine Kinderkrippe viel mehr Personal als ein Kindergarten?“.

Schweizer Kinder machen zwischen vier und fünf Jahren einen phänomenalen Entwicklungssprung. Beim Eintritt in den Kindergarten brauchen sie nämlich viel weniger Betreuung als noch Wochen zuvor in der Krippe (oder KiTa, wie man heute sagen muss). In Zahlen: In der Krippe ist auf circa fünf Kinder eine Betreuerin vorgeschrieben. Im Kindergarten genügt eine Person auf 20 Kinder.

Der wirkliche Grund ist freilich weniger spektakulär. Während in den Kindergärten die kantonalen Bildungsdepartemente die Klassengrössen festlegen, werden für die Krippen meist die Empfehlungen des privaten Verbands KiTaS als verbindlich erklärt und durchgesetzt. Dieser hat in mehreren Kantonen auch bei der Ausarbeitung der Gesetzgebung mitgeholfen, sowie die Ausbildung zur Fachperson Kinderbetreuung mitentwickelt.

Nein, dies ist kein KiTaS-Bashing. Der Staat profitiert – und zwar freiwillig – vom Fachwissen privater Institutionen. Auch steht KiTaS mit seinen halbstaatlichen Aufgaben nicht alleine da. Die Richtlinien der ebenfalls privaten Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe Skos etwa gelten fast überall; an ihnen orientieren sich sogar die Gerichte. Branchenverbände unterschiedlichster Couleur beeinflussen die Arbeitsmarkt- und Bildungspolitik des Landes.

Die Verflechtung von privaten Organisationen und dem politisch-administrativen System ist jedoch nicht unproblematisch. Erstens versuchen private Gruppen mit ihrem Wissensvorsprung, Marktprozesse zu ihren Gunsten zu regulieren. Als faktische Gesetzgeber machen sie der Politik Vorgaben, von denen sie direkt oder indirekt wieder profitieren. Kein Wunder gehen Regulierungsdichte und Ausbildungsanforderungen nur in eine Richtung: nach oben.

Zweitens drückt sich die Regierung durch die Übernahme privater Erlasse vor der Verantwortung. Mit Konsequenzen, die via Subventionen weit in die Finanzpolitik reichen. Die so ausgelagerten Entscheidungen entziehen sich oft der demokratischen Kontrolle.

Drittens verschleiern zahlreiche Outsourcings die wahre Regulierungsdichte im Lande. Wir Schweizer rühmen uns gerne eines schlanken Staates. Zählten wir alle externen marktbeschränkenden Regulierer zur zentralen Bürokratie, wäre unser Regulierungsapparat vielleicht gar nicht so viel kleiner wie der vielgescholtene Wasserkopf in Brüssel.

Nicht dass es in all den genannten Bereichen keine Regeln bräuchte. Zweifelhaft ist nur, ob die von privaten Verbänden ausgearbeiteten Richtlinien wirklich zu einem halbwegs optimalen Ergebnis führen. In der Kinderbetreuung haben wir – als seltenen Glücksfall – eine Vergleichsgrösse: Neben den privat regulierten Krippen gibt es mit den Kindergärten ähnliche, aber staatlich organisierte Institutionen. 

Und hier lässt das viermal höhere KiTa-Betreuungsverhältnis nur einen Schluss zu: Etwas stimmt hier nicht. Denn: Müsste die Grosszügigkeit in der Betreuung nicht eher umgekehrt sein? Immerhin ist der Kindergarten die erste Stufe unseres Bildungssystems, von welcher wirklich alle Kinder profitieren. Und von der wir, spätestens seit den Arbeiten des Nobelpreisträgers James Heckman, wissen, dass sie gerade für sozial benachteiligte Kinder die wichtigste ist. 

Die KiTas-Richtlinien umfassen ja nur den nicht-obligatorischen Bereich der Bildung, könnten man einwenden. Doch gerade dieser Bereich absorbiert viel politische Energie und enorme Steuermittel (weil eben die Regeln so streng sind). Viele benachteiligte Kinder kommen nie in den Genuss dieser Mittel. Sei es nur, weil deren Eltern nicht wissen, wie sie an einen subventionierten Krippenplatz kommen.

Traurig. Der Streit um die Finanzierung der personell so grosszügig zwangs-ausgestatteten Krippen lenkt ab von einer gesellschaftlich viel relevanteren Ausbildungslücke im Kindergarten. Auf den wundersamen spontanen Entwicklungssprung unserer vierjährigen Kinder warten wir nämlich vergeblich.

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