Christina Felfe
Im Lichte der bevorstehenden Volksabstimmung zum Familienartikel am Sonntag, den 3.März 2013 und den dazu herrschenden kontroversen Diskussionen erscheint es sinnvoll und, die aktuelle Situation der Kinderbetreuung in der Schweiz zu beleuchten.
Wer ist zuständig für die Reglementierung, Bewilligung, Aufsicht und Finanzierung der familienergänzenden Kinderbetreuung? Wie ist die aktuelle Versorgung mit Betreuungsplätzen? Wie hoch sind die Kosten? Mit diesen und anderen Fragen beschäftigt sich meine Öffentliche Vorlesung am 28.Februar 2013, an der Hochschule St. Gallen (HSG).
Sucht man in der Familiendatenbank der Organisation for Economic Co-operation and Development (OECD) nach internationalen Daten zum Versorgungsgrad von Kleinkindern (Alter 0-2 Jahre), erhält man für die Schweiz keine Informationen. Während der durchschnittliche Versorgungsgrad in den OECD Ländern bei ca. 30% lag, gibt es für die Schweiz bislang keine Daten zum Angebot familienergänzender Betreuung. Einen ersten Schritt um diese prekäre Datenlage zu beheben wurde im Rahmen des Nationalfond Projektes zum Thema „Gleichstellung der Geschechter“ (NFP60) von INFRAS (Rolf Iten und Susanne Stern) und SEW/HSG (Christina Felfe, Michael Lechner und Petra Thiemann) getan. Mittels einer kantonalen Befragung wurden Daten zum Angebot von frühkindlicher Betreuung und schulergänzender Betreuung auf Gemeindeebene für das Jahr 2010/2011 erhoben. Diese Erhebung erlaubt erstmals den Ist-Zustand der Kinderbetreuung in der Schweiz darzustellen.
Ergebnis des föderalistischen Systems sind nicht nur starke Unterschiede in der Verankerung der Familienbetreuung in den kantonalen Gesetzen, sondern auch massive Unterschiede in den Versorgungsquoten. Einzig der Kanton Genf kommt an internationale Standards heran und kann durchschnittlich 30% der 0-3 Jährigen einen Platz in einer Krippe anbieten. Weitere Kantone mit fortgeschrittenem Ausbau an Betreuungsplätzen für Kinder im Kleinkindalter sind Neuchâtel und Waadt (jedem fünften Kind steht hier ein Betreuungsplatz zur Verfügung). In der Deutschschweiz können einzig Basel-Stadt und Zürich mit einer Betreuungsquote von rund 20-30% ein erhöhtes Angebot bieten. Weit abgeschlagen ist die Ost- und Zentralschweiz, wo meist nicht einmal jedem zehnten Kind ein Betreuungsplatz zur Verfügung steht.
Ein Vergleich der durchschnittlichen Preise lässt weiterhin erkennen, dass die Schweiz jungen Eltern bei der Kinderbetreuung nicht gerade entgegenkommt. Während in den 24 Europäischen Ländern Eltern im Durschnitt ca. 16% ihres Haushaltseinkommen für einen Betreuungsplatz aufwenden müssen, belaufen sich die Kosten in der Schweiz auf knapp 40% des Haushaltseinkommens. In unseren Nachbarländern, Deutschland, Frankreich und Österreich sind diese Kosten bei weitem niedriger und belaufen sich auf 9%, 15% und 19%.
Der Vorschlag zum neuen Familienartikel zielt darauf ab diese Missstände zu beheben. Die Verantwortung der Kantone eine bedarfsgerechte Betreuung anzubieten soll gesetzlich verankert werden. Interessanterweise ist dies bereits in mehr als der Hälfte der Kantone geschehen. In 15 Kantonen ist entweder in der kantonalen Verfassung oder in der kantonalen Schulordnung die Bereitstellung eines bedarfsgerechten Betreuungsangebots festgehalten.
Ziele die mit einer Erhöhung des Betreuungsangebotes verfolgt werden sind üblicherweise die Vereinbarkeit von Familie und Erwerbsarbeit, die Förderung und Integration von Kindern aus benachteiligten Familien und nicht zuletzt die Armutsverminderung durch eine Reduktion von Sozialhilfe- oder Fürsorgeausgaben.
In wieweit wird die Realität diesen Ansprüchen jedoch gerecht? Ergebnisse von Studien aus verschiedenen Ländern weisen überwiegend positive Effekte des öffentlichen Angebotes an Kinderbetreuung für die Erwerbstätigkeit von Müttern aus. Die gemessen Effekte variieren jedoch von stark positiv – u.a. in Kanada gemäss Studien von Baker, Gruber und Milligan oder Lefebre and Milligan) oder Israel gemäss einer Studie von Schlosser – bis zu eher geringen Effekten – u.a. in Spanien gemäss einer Studie von Rodriguez-Planas und Nollenberge oder Norwegen gemäss Havnes und Mogstad. Weitere Studien finden, dass ein öffentliches Betreuungsangebot nur einen Stimulus für das Arbeitsangebot von alleinerziehenden Müttern darstellt (u.a. Cascio, Fitzpatrick und Goux und Maurin).
Wie wirkt sich die familienexterne Betreuung jedoch auf die Entwicklung der Kinder aus? Kinder, welche Krippen in Deutschland besuchen sind sprachlich, sozial-emotional und motorisch weiter entwickelt als ihre Peers, welche von der Mutter betreut werden (gemäss einer Studie von Felfe und Lalive). Diese positiven Entwicklungseffekte sind v.a. für Kinder aus sozial benachteiliten Umfeld zu beobachten. Ähnlich positive Effekte konnten für den Kindergartenbesuch auf die sprachliche und motorische Entwicklung von Migrantenkinder in Deutschland gefunden werden (Dustmann, Raute und Schönberg). Langfristig konnten ebenfalls positive Effekte eines universalen Kindergartenangebotes auf die Bildung und Arbeitsmarkterfolges der nachwachsenden Generation nachgewiesen werden (siehe u.a. Felfe, Nollenberger und Rodriguez und Havnes und Mogstad). Wichtig ist es hierbei jedoch zu betonen, dass nur eine qualitativ hochwertige Betreuung im Kindergarten solche positive Effekte hervorrufen kann. In Kanada, wo der Ausbau an Kindertagesstätten sehr schnell und unkontrolliert stattfand, konnten keine bzw. eher negative Konsequenzen für die soziale und motorische Entwicklung von Kindern nachgewiesen werden (siehe Baker, Gruber und Milligan).
Abschliessend bleibt zu sagen: Familienexterne Kinderbetreuung scheint, entgegen mancher Befürchtungen nicht zu schaden, sondern den Trend zur ansteigenden Ungleichheit von benachteiligten Gesellschaftsgruppen zu stoppen.
Anmerkung Monika Bütler: Die Autorin dieses Beitrags, Christina Felfe, PhD, ist Assistenzprofessorin an der HSG. Sie ist eine ausgewiesene Expertin auf den Gebieten Arbeitsmarkt (auch von Müttern) und Kinderbetreuung. Interessenten sind herzlich eingeladen zu ihrem Vortrag am 28. Februar. Details hier.