Marius Brülhart
Jenseits des Atlantiks geben die neuesten Verteilungsstatistiken von Emmanuel Saez zu reden. Das reichste Prozent schneidet sich in den USA nach einer krisenbedingten Flaute nun wieder ein wachsendes Stück vom Wirtschaftskuchen ab. Und dies auf hohem Niveau: Auch im Jahr 2009, mitten in der Finanzkrise, flossen satte 17 Prozent des gesamten Einkommens ans reichste Prozent der Steuerzahler. Auf die obersten zehn Prozent entfiel gar nahezu die Hälfte des amerikanischen Haushaltseinkommens. Wie die unten stehende Grafik zeigt, war dem nicht immer so, denn die US-Einkommensschere ist erst seit den achtziger Jahren so richtig auseinandergegangen.
Wie steht es in dieser Hinsicht um die Schweiz? Mittels anonymisierter Individualdaten der direkten Bundessteuer ist es seit Kurzem möglich, auch für unser Land präzise Zahlenreihen zu generieren (der ESTV und dem Nationalfonds sei Dank, wie auch meinen Mitarbeitern Stefanie Brilon und Raphaël Parchet). Die derzeit verfügbaren Daten reichen von 1973-74 bis 2008. Sie decken die Gesamtheit der Schweizer Steuerzahler ab, was uns bis zu 3,6 Millionen jährliche Beobachtungen beschert.
Hiermit eine erste Auswertung, grafisch dargestellt in Form der roten Zahlenreihen, exklusiv für unsere treue Batz-Leserschaft (die Romandie ist bereits via Le Temps informiert). Die Grafik legt drei Feststellungen nahe:
- Die obersten Einkommen haben im Jahrzehnt vor der Finanzkrise tatsächlich auch in der Schweiz überdurchschnittlich zugelegt. Ihr Anteil am gesamten Kuchen wuchs um beinahe ein Drittel. Eine ähnliche Entwicklung stellt man auch bei der Vermögensverteilung fest. Allerdings gibt es (mittels der Steuerdaten bislang noch nicht erfassbare) Anzeichen auf einen Rückgang der Einkommensungleichheit nach 2008.
- Auch auf dem Gipfel der Vorkrisenkonjunktur waren die Schweizer Einkommen erheblich weniger ungleich verteilt als diejenigen der US-Amerikaner. Im Jahr 2008 erfreute sich das oberste Prozent in der Schweiz eines Anteils von 11.5 Prozent am steuerbaren Gesamteinkommen. Das sind etwas weniger als zwei Drittel des Anteils, der damals dem obersten Prozent in den USA zukam.
- Die langfristige Entwicklung der Einkommensverteilung in unserem Land ist verhältnismässig stabil. Die in der jüngeren Vergangenheit für schweizerische Verhältnisse rekordhohen Ungleichheiten von 2008 lagen immer noch unter dem Niveau der frühen siebziger Jahre; und der in den USA beobachtete markante Anstieg der letzten drei Jahrzehnte ist bei uns grösstenteils ausgeblieben. Schweizer Datenreihen, die bis in die dreissiger Jahre zurück reichen (allerdings aufgrund etwas weniger präziser statistischer Grundlagen), zeichnen das gleiche Bild: Die Verteilung der steuerbaren Einkommen hat sich im Zeitverlauf relativ geringfügig verändert.
Wie sich die Einkommen idealerweise über die Bevölkerung verteilen sollten, ist weitgehend Ansichtssache. Zudem ist die Problematik vielschichtiger, als dass man sie mit ein paar simplen Zahlenreihen umfassend beziffern könnte. Dennoch wage ich den (unweigerlich subjektiven) Schluss, dass in der Schweiz – im Gegensatz zu den USA – in den letzten Jahrzehnten kein genereller Neubedarf an staatlicher Einkommensumverteilung erwachsen ist.
Allerdings ist es durchaus denkbar, dass sich die Tendenz der Jahre vor der Finanzkrise in der nächsten Zukunft wieder fortsetzt und sich die Einkommensschere auch bei uns noch weiter öffnet. Wir werden die Daten aufmerksam weiter verfolgen und eingehend auf Kausalzusammenhänge hin erforschen. Batz bleibt dran.
Sehr geehrter Herr Brülhart, was meinen Sie zur Auslegung von Daniel Lampart?
http://www.politnetz.ch/beitrag/17521