Erschienen in der NZZ am Sonntag vom 25. März unter dem Titel „Zählen und erzählen wir das, was wirklich zählt?“ ( Untertitel: Einschaltquoten und «Impact»-Statistiken führen zunehmend in die Irre)
„Wi taari säge?“ soll früher die höfliche St. Galler Metzgerin gefragt haben, wenn ein Kunde den Laden betrat, den sie als Doktor oder Professor verdächtigte. Auch der Wiener Musikverein will beim Online-Verkauf für Konzertkarten niemanden falsch anreden. Die Käuferin hat die Wahl zwischen nicht weniger als 76 Anreden – vom „Amtsrat“ über die „Kammersängerin“ bis zum „Univ.-Prof. Dr.“
Die Titelliste des Musikvereins amüsant, aber eigentlich völlig unwichtig. Dennoch stürmte sie die Hitparade: unter den 400 Einträgen in unserem Blog zu aktuellen Themen der Wirtschaftspolitik landete sie gleich auf Platz Drei – gemessen an der Anzahl Kommentare, den ausgelösten Tweets und den Erwähnungen in anderen (Online‑) Medien. Übertroffen wurde die Titelliste nur noch von zwei nebensächlichen Einträgen zu Urheberrechtsverletzungen. Erst auf dem vierten Platz folgt der erste Beitrag, der im weiteren Sinne etwas mit der Zielsetzung des Blogs zu tun hat: Ein Quiz zur Vermögensverteilung in verschiedenen Ländern. Noch weiter hinten dann die teilweise unter beträchtlichem Forschungsaufwand verfassten „seriösen“ Texte.
Es soll uns zwar nicht besser gehen als anderen Informationsanbietern. Die früher unter „Unglücksfälle und Verbrechen“ zusammengefassten Meldungen sind nun einmal attraktiver als fundiert recherchierte Hintergrundartikel. Die Erfahrungen aus dem eigenen Blog bereiten mir dennoch Bauchweh. Aus einer Innensicht, weil das Ranglisten-Fieber letztlich auch die Art der Öffentlichkeitsarbeit von Forschern beeinflusst. Aus einer Aussensicht, weil die wirtschaftspolitische Debatte nicht nur im Blog, sondern auch in der „richtigen“ Politik mehr und mehr durch den Reiz medialer Strohfeuer (ab)gelenkt wird.
Zum ersten. Ich wäre die Letzte, die sich innerhalb der Hochschulen gegen eine Berücksichtigung der Öffentlichkeitsarbeit bei der Evaluation von Forschern wehrt. Es ist nicht nur jammerschade, wenn gute Forschung im Elfenbeinturm verdorrt. Es wäre auch ein Witz, wenn staatlich besoldete Wissenschaftler ausgerechnet wegen eines Diensts am Steuerzahler – der Aufbereitung von Forschungsresultaten für eine breitere Öffentlichkeit – büssen müssten. Denn Medienarbeit kostet; Forschungszeit nämlich. Verständlich auch, dass die öffentliche Wirkung an messbaren Grössen abgelesen werden soll. Doch die leicht verfügbaren Indikatoren messen die Wirkung der Arbeit noch schlechter als bei der Forschung. Wer eine parlamentarische Kommission von einer ineffizienten Massnahme abhalten kann, spart dem Land vielleicht Millionen von Franken. Eine grosse Anzahl Zitationen, Kommentare, Tweets erhält er dadurch nicht. Wer messbaren Impact haben will, sorgt besser für moderaten Klamauk als für Aufklärung.
Zum zweiten. Unsere Erfahrungen im Blog finden sich in der politischen Debatte wieder. Gerade in den letzten Monaten dominierten die medial begleiteten und deshalb attraktiven Diskussionen aus der chronique scandaleuse. Die wirklichen Herausforderungen der Zukunft blieben hingegen liegen. Ein aktuelles Beispiel: Der kurz vor Weihnachten publizierte Bericht des Bundesrates zur Zukunft der zweiten Säule schien bis vor kurzem kaum jemanden zu interessieren. Dabei steckt in den 160 Seiten nicht nur viel Brisantes, die zweite Säule betrifft auch alle Bewohner der Schweiz direkt oder indirekt über Steuern und Immobilienpreise. Zudem zeigen uns die südeuropäischen Länder zur Genüge, was passiert, wenn man sich bei der Alterssicherung Illusionen hingibt. Dennoch: Wir debattieren in Presse und Politik lieber über die erzwungene Frühpensionierung der drei Schweizer Delphine als über die fehlenden Mittel zur Pensionierung der vie Millionen Arbeitenden im Lande. Als könnte die St. Galler Metzgerin dann schon jedem „eidg. dipl. Säule-2-Geschädigten“ täglich einen Zipfel Bratwurst zustecken.
Wer den Zipfel Bratwurst nicht ehrt wird nie verstehen dass Hinz und Kunz sich öfter Sorgen über die Delphine machen als über komplizierte wirtschaftliche Zusammenhänge.
Der Blogeintrag über die 76 Titel war für Kommentatoren zu verlockend und bestimmt ein zur Steigerung der Bekanntheit des Blogs geeignetes Thema.
Welches Gewicht der simplen Zählung beigemessen wird, kann ja das Geheimnis der erfolgreichen BlogschreiberInnen bleiben?