Monika Bütler
Fast alle Regeln lassen Möglichkeiten offen, sie gegen ihren Geist auszulegen. Mehr noch: Je genauer und spezifischer die Regeln, desto genauer umrissen sind für findige Köpfe auch die Löcher. Am besten weiss dies wohl das Steueramt.
Die untenstehende Kolumne – erschienen in der NZZ am Sonntag vom 29. Januar 2012 – hatte ich schon lange vor der Diskussion um die SNB Reglemente im Kopf, die Hälfte war bereits vor Monaten auf dem elektronischen Papier. Mein Kollege Jörg Baumberger hat mir dann noch den letzten Anstoss gegeben, die Kolumne auch wirklich fertig zu schreiben. Er hat mir nämlich eine der legendären Pepper… and Salt Cartoons des Wallstreet Journals zugesteckt. Ein frohlockender Lobbyist meint dort: „The great thing about regulations is more loopholes.“
Mein Dank geht an Jörg Baumberger, Silvio Borner und andere Kollegen, die mir in den letzten Wochen aufmunternd zur Seite gestanden sind. Und natürlich an meine Familie. Unsere Kinder haben nämlich bisher jedes noch so raffinierte Reglement, jeden vermeintlich „optimalen“ Anreizvertrag ausgehebelt. Noch am besten funktionieren unspezifische Verhaltensregeln (lieb und anständig sein).
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Jedes Reglement hat auch seine Löcher
Schlaumeier nützen Lücken in den Vorschriften aus – was zu noch mehr Regeln führt
Roger Federer ist dafür. Rafael Nadal eher dagegen. Es geht um die Pflicht für Athleten, ihren Aufenthaltsort laufend der Internationalen Anti-Doping Agentur zu melden. Vollkommene Transparenz soll die Kontrolle darüber erleichtern, ob ein Athlet verbotene Substanzen verwendet. In einer langen Liste sind diese abschliessend aufgezählt. Man hat nicht einmal vergessen, den Alkohol aus dem Automobilrennsport zu verbannen.
Es gibt kaum ein extremeres Beispiel für Transparenzpflichten und ausdetaillierte Regeln. Da hat es sich Moses mit der saloppen Formel „Du sollst nicht ehebrechen“ doch einfach gemacht. Traurige Gemeinsamkeit: Weder die leistungssteigernde Medizin noch der Ehebruch sind bislang verschwunden.
Trotzdem wissen viele, wie Finanzgeschäfte eines Notenbankpräsidenten zu behandeln sind: Mit schärferen Regeln.
Vergessen geht dabei: Fast alle Regeln lassen Möglichkeiten offen, sie gegen ihren Geist auszulegen. Mehr noch: Je genauer und spezifischer die Regeln, desto genauer umrissen sind für findige Köpfe auch die Löcher (fragen Sie beim Steueramt nach). Der Emmentaler ist zwar klarer strukturiert als der Hüttenkäse, hat aber gerade darum auch duetlichere Löcher, durch die man den Finger stecken zu kann, ohne den Käse zu berühren. Das Wallstreet Journal brachte es vor vielen Jahren mit einem ihrer legendären Pepper…and Salt Cartoons auf den Punkt: „The great thing about regulations is more loopholes.“
Detaillierte Regeln können notwendig sein, um das Individuum zu schützen. Gleichzeitig bergen sie die Gefahr, dass ein dem Geist der Regeln entsprechendes Verhalten geahndet wird. Darum wissen Eltern: Das Versprechen: „Wenn Ihr lieb seid …“, ist meist besser verständlich und wirksamer als lange Verbots- oder Gebotslisten.
So wäre es nicht nur in der Kinderstube, sondern auch an der Uni. Die Spannung zwischen dem Geist eines Reglements und seinen konkreten Auswirkungen ist an den Hochschulen spür- und sichtbar. Der Studienbetrieb ist heute stark ver-reglementiert – angefangen bei der Aufnahme, über Wahlmöglichkeiten, bis zur Anerkennung von Leistungen, und zu guter letzt den Noten. Nicht nur mit unerwünschten Folgen. Schlaumeiern gelingt es immer wieder, Lücken zu finden. Gleichzeitig bleiben oft gerade brillante und aussergewöhnliche Studierende an Vorschriften hängen. Sie können nicht zugelassen werden oder müssten unverhältnismässige und unzumutbare Extraleistungen bringen.
Wir schimpfen und vergessen, dass wir an dieser Entwicklung mitschuldig sind. Regelkonforme aber dem Geist der Hochschule widersprechende Verhalten von Schlaumeiern führen zu Forderungen nach mehr und klareren Regeln. Am Ende treffen die von uns gewünschten und von der selbstverständlich bösen Verwaltung umgesetzten Vorschriften die Falschen. Die Mehrheit der Student(inn)en und der Professor(inn)en hat den Überblick über die Reglemente ohnehin längst verloren und es ist reiner Zufall, dass sie die Vorschriften nicht verletzen. Unser Regelsystem gleicht immer mehr einem Parmesan, durch den es kein Durchkommen gibt, als einem Hüttenkäse wo sinnvolle Lösungen, die dem Geist der Uni entsprechen, noch möglich sind.
Ausgerechnet der vermeintliche Elfenbeinturm ist ein gutes Abbild des richtigen Lebens: Die Verrechtlichung nimmt überhand, der gesunde Menschenverstand wird verdrängt. Es sind nicht die unterbeschäftigten Bürokraten, die uns das Leben schwer machen. Wir sind es selber, indem wir bei jedem Problem dem „Lückenfüll-Reflex“ erliegen.
Den goldenen Mittelweg zu finden zwischen Vorschriften, die Missbrauch vernünftig einschränken, ohne gleichzeitig den Geist der Regulierung abzuwürgen, ist zugegebenermassen schwierig. Der Einsatz lohnt sich aber. Im Gegensatz zu den Erziehungsregeln, die nach einigen Jahren ohnehin obsolet werden, bleiben uns die meisten anderen Vorschriften oft sehr lange erhalten.