Marius Brülhart
Kaum eine ökonomische Grösse ist gesellschaftlich so bedeutsam und gleichzeitig statistisch so schlecht erfasst wie der jährliche Fluss an Erbschaften.
Vor zwei Jahren habe ich den Versuch einer Schätzung gewagt und bin für 2020 auf 95 Milliarden Franken gekommen. Diese Schätzung basierte auf dem Versuch, das Erbschafts- und Schenkungsvolumen in der Schweiz trotz misslicher Datenlage mit wissenschaftlichen Methoden fürs Jahr 2011 zu schätzen und ab dann mittels ebenfalls zeitverzögert erhältlicher Vermögensstatistiken zu extrapolieren.
Diese Schätzung ist seither meines Wissens die einzige geblieben und wird in der öffentlichen Diskussion weiterhin ab und zu erwähnt.
Höchste Zeit also für ein Update und eine Qualitätskontrolle.
Seit meinem letzten Anlauf wurde die schweizerische Vermögensstatistik um die Jahrgänge 2017 und 2018 ergänzt. Diese Daten deuten auf ein leicht verlangsamtes Vermögenswachstum hin. Genau gesagt ergibt sich für die Extrapolation seit 2011 nun eine Wachstumsrate von 4.5% statt wie vor zwei Jahren angenommen 5%. Das senkt auch den Wachstumspfad der geschätzten Erbmasse. Fürs Jahr 2020 kommt man so auf eine Schätzung von rund 90 statt 95 Milliarden.
Auch eine Qualitätskontrolle ergibt eine gewisse Revision nach unten. Ein scharfsinniger Lausanner Ökonomiestudent, Guillaume Rais, hat unsere wissenschaftlichen Methoden im Rahmen seiner Masterarbeit nochmals kritisch geprüft. (Seine Studie ist nicht online einsehbar aber erhältlich auf Anfrage.)
Der wichtigste Befund: In unserer ursprünglichen Studie haben wir die erbschafts-relevanten Vorsorgeguthaben wohl überschätzt. Es geht um Kapitalbezüge und Freizügigkeitsguthaben in der 2. Säule und um 3.-Säule-Ersparnisse. In der Summe schliesse ich daraus, dass unsere wissenschaftliche Schätzung für 2011 um etwa 10% zu hoch lag. Die Wahrheit für 2020 lag demgemäss eher bei 82 als bei 95 Milliarden.
Was bedeutet das nun fürs kommende Jahr 2022? Mit der revidierten Schätzung für 2020 und einer angenommenen Vermögenssteigerung von 4.5% ergibt sich ein Wert von 90 Milliarden (= 82 Mia. * 1.045^2).
Diese Ausführungen zeigen, auf welch tönernen Füssen solche Schätzungen stehen. So ist es durchaus möglich, dass ich nun etwas zu tief liege, insbesondere angesichts der Vermögenswertsteigerungen in der Corona-Zeit.
Aber eine Tatsache steht ausser Zweifel: Erbschaften und Schenkungen stellen einen gewaltigen wirtschaftlichen Fluss dar. 90 Milliarden Franken im Jahr 2022 wären ungefähr 12% des prognostizierten Bruttoinlandprodukts (762 Mia.), deutlich mehr als die gesamten Ausgaben des Bundes (78 Mia.), und beinahe das Doppelte aller ausbezahlten AHV-Renten (47 Mia.).
Sehr geehrter Herr Brülhart
In der NZZaS vom letzten Wochenende wurden Daten aus einer Studie der Fachhochschule Nordwestschweiz zu den durchschnittlichen Rentnervermögen in der Schweiz veröffentlicht.
Setzt man diese Daten in Beziehung zu den Zahlen der offiziellen Todesfallstatistik im Jahre 2020, so kommt man zu einem vererbten Vermögen von Rentnern von rund CHF 30 Mia..
Woher kommt wohl diese enorme Differenz zu den von Ihnen berechneten rund CHF 90 Mia.?