Marius Brülhart
Wieso tut sich die Schweizer Politik so schwer mit der überfälligen Anpassung der Schuldenbremse?
Der Bundesrat freut sich auch dieses Jahr wieder auf ein über Erwarten rosiges Finanzergebnis. Er rechnet mit einem Überschuss von 2.8 Milliarden Franken – mehr als doppelt so viel wie budgetiert.
Hauptursache für die regelmässigen Rechnungsüberschüsse ist die unvollständige Ausschöpfung der gesprochenen Kredite. Dieses Phänomen hat nachvollziehbare Gründe und ist Ausdruck einer funktionierenden Verwaltung. Die budgetierten aber ungebrauchten Mittel betrugen in den letzten zwölf Jahren jeweils durchschnittlich 1.1 Milliarden. Eine seit 2017 geltende budgettechnische Flexibilisierung hat die jährlichen Kreditreste nur unwesentlich, auf ca. 0.9 Milliarden, gesenkt.
Der Bundesrat selber bezeichnet Budgetunterschreitungen infolge von Kreditresten denn auch als „systembedingt“.
Und trotzdem hat er sich unlängst ausdrücklich geweigert, die Schuldenbremse an diese Gegebenheit anzupassen.
Eine entsprechende Ergänzung des Regelwerks wäre vergleichbar mit der geläufigen Praxis der Fluggesellschaften, ihre Maschinen zu überbuchen, weil sie genau wissen, dass ein kleiner aber stetiger Anteil der gebuchten Passagiere die Reise letztlich nicht antritt. Ohne diese Praxis wären die Flugzeuge chronisch unterbelegt. Und ohne eine entsprechende Praxis weist der Rechnungsabschluss des Bundes eben chronisch Überschüsse aus.
Stattdessen schlägt der Bundesrat vor, den Budgetvollzug weiter zu flexibilisieren. Das Phänomen Kreditreste werden solche Massnahmen aber nicht aus der Welt schaffen. Dies wäre nur durch einen verschwenderischen Umgang mit öffentlichen Geldern zu erreichen, denn Budgetreste gehen unweigerlich mit einer effizienten Finanzkontrolle einher.
Woher also die Renitenz gegenüber einer Ergänzung der Schuldenbremse? Was spricht dagegen, die alle Jahre wiederkehrenden Kreditreste vorausschauend in der Budgetierung zu berücksichtigen?
Das Zögern der Politik liegt wohl zumindest teilweise daran, dass jegliche Anpassung der Schuldenbremse intuitiv als Lockerung verstanden wird; wobei man unter „Lockerung“ einen Anstieg der Staatsquote versteht. Beispielhaft dafür ist ein Beitrag von leitenden Ökonomen aus der Bundesverwaltung. Die Autoren sehen keinen akuten Bedarf nach zusätzlichen Bundesausgaben und somit auch keinen Anlass zu einer Anpassung der Schuldenbremse. Sie setzen eine Anpassung der Schuldenbremse also implizit gleich mit Zusatzausgaben.
Dies ist ein Missverständnis.
Es gibt zwar in der Tat Reformvorschläge, die in höheren Ausgaben münden würden. Gemäss dem Vorschlag der Expertenkommission jedoch wäre eine Ergänzung der Schuldenbremse mit einer Steuersenkung verbunden und nicht mit einer Ausgabenerhöhung. Also absolut staatquotenneutral.
Oder vielleicht will man auch bloss das Regelwerk nicht verkomplizieren. Die Luzerner Ökonomen Christoph Schaltegger und Michele Salvi sprechen von einer „komplexen Anpassung“, die erforderlich wäre. Technisch wäre die vorgeschlagene Ergänzung allerdings ziemlich simpel, denn man müsste bloss den existierenden Konjunkturfaktor um einen einfach berechenbaren administrativen Korrekturfaktor ergänzen.
Oder gründet der Unwille zur Reform letztlich in einer tiefen und nicht immer rationalen Aversion gegenüber Schulden jeder Art? Bekanntlich hat bei uns der Begriff „Schuld“ gleichzeitig ökonomische und moralische Bedeutung, wogegen beispielsweise die englische Sprache zwischen „debt“ und „guilt“ unterscheidet. Vielleicht präsentieren unsere Politiker ganz gerne unerwartete Überschüsse, und sehen darin mitnichten ein Marketingproblem.
Wie dem auch sei: Dass die Schweizer Steuerzahler Jahr für Jahr eine Milliarde Franken hinblättern für eine ökonomisch kaum mehr zu rechtfertigende Reduktion der ohnehin rekordtiefen nominellen Staatschuld, geht in dieser Diskussion gemeinhin vergessen.