Monika Bütler
NZZ am Sonntag, 11. Juni 2017
Trotz jahrzehntelangem Pendeln wird es mir im Zug beim Rückwärtsfahren immer noch schlecht. Aber auch robustere Passagiere fahren lieber vorwärts. Dem liegt wohl der Grundinstinkt des Homo Sapiens zu Grunde, nicht in die Vergangenheit zu schauen, sondern in die Zukunft. Dort kommen nämlich die Gefahren her, vor denen wir uns noch hüten können.
Nur – manchmal löst eine bedrohliche Zukunft einen Vogel-Strauss-Effekt aus: Der Blick wendet sich in die Vergangenheit. In der Alterssicherung, zum Beispiel. Als die AHV vor 70 Jahren eingeführt wurde, wurden ihr zwei Kontrollinstrumente zur Seite gestellt: ein zentraler Ausgleichsfonds und die sogenannte „Technische Bilanz“. Letztere stellte, auf weite Sicht berechnet, den Barwert aller künftigen Einnahmen dem Barwert aller künftigen Ausgaben gegenüber.
Die Technische Bilanz war gewissermassen das Frühwarnsystem der AHV. Sie galt lange als Kompass bei Revisionen; sie zeigte rechtzeitig an, ob die Entwicklungen von Ausgaben und Einnahmen aus dem Ruder zu laufen drohten. So liessen sich in den guten Jahren die Überschüsse in der Technischen Bilanz als Rechtfertigung für höhere Leistung heranziehen.
Natürlich gab es auch Kritik an der Technischen Bilanz: Die für die Berechnung notwenigen wirtschaftlichen und demographischen Parameter schwanken über die Zeit. Doch verschiedene Studien, die später mit ungleich höherem Aufwand ähnliche Rechnungen anstellten, kamen immer wieder zu vergleichbaren Ergebnissen.
Letztlich scheiterte die technische Bilanz an der – vermeintlich – guten Finanzlage der AHV: Die jährlichen Überschüsse sprudelten, und eine längerfristige Betrachtung schien überflüssig. Mit der 6. AHV-Revision von 1964 wurde sie abgeschafft.
Seitdem sitzen Herr und Frau Schweizer rückwärts im AHV-Zug. Die Reformvorschläge drehen sich um den rückwärtsgerichteten Ausgleichsfonds. Selbst die von bürgerlichen Politikern vorgeschlagene AHV-Schuldenbremse beruht nicht auf einem Vergleich künftiger Einnahmen und Verpflichtungen, sondern auf der finanziellen Entwicklung der AHV in der Vergangenheit.
Es wäre daher Zeit, die Technische Bilanz wieder einzuführen. Kein Startup bekommt einen Kredit ohne Business-Plan. Doch ausgerechnet beim wichtigsten Sozialwerk mit gut absehbaren Einnahmen und Ausgaben schenken wir uns den Blick in die Zukunft.
Eine technische Bilanz hätte schon in den 1980er Jahren die herannahende Finanzierungslücke angezeigt. Und sie hätte in der laufenden Altersreform 2020 als Kompass dienen können. Berechnungen zeigen, dass der Vorschlag von Bundesrat Berset das klaffende Loch von rund 170% einer jährlichen Wirtschaftsleistung der Schweiz (BIP) halbiert hätte. Immerhin. Die Abstimmungsvorlage vom 24. September reduziert die Lücke nur noch auf 135% – dank „Verbesserungen“ vor allem zu Gunsten der im Parlament am besten vertretenen Generation der 45-64-Jährigen.
Ironischerweise hätte das Bundesamt für Sozialversicherungen die Technische Bilanz mit stetig abnehmendem Aufwand weiterführen können. Bei ihrer Einführung musste noch alles von Hand berechnet werden. Heute liesse sie sich – samt den Auswirkungen simulierter Reformvarianten auf die verschiedenen Generationen – auf jedem Laptop berechnen.
Das Problem ist heute nicht mehr die Berechnung, sondern der (fehlende) Mut, den Ergebnissen ins Auge zu sehen. So sitzt der Homo Helveticus Retrospectans rückwärts im Vorsorge-Zug. Ihm wird es offenbar gerade dank dem Blick in die Vergangenheit nicht schwindlig. Nur merkt er nicht, dass es längst Zeit wäre, auszusteigen.
(Wer noch etwas mehr wissen will: Die AHV: Eine Vorsorge mit Überalterungsblindheit. Christina Zenker & Katia Gentinetta (2009))
Während die Ausgaben der AHV langfristig relativ zuverlässig abgeschätzt werden können, ist die Entwicklung der Einnahmenseite nur schwer prognostizierbar. Höhe der Zuwanderung? Wirtschaftswachstum? Entwicklung des Rücktrittsalters? Neue Finanzierungsquellen? Darüber lässt sich trefflich spekulieren.