Altern ist (nicht) lustig

Monika Bütler

Der Beitrag erscheint unter dem selben Titel im HSG Focus 01/2017.

Das Knie knirscht, der Rücken schmerzt, die Falten werden tiefer. Mein Jüngster meinte vor einiger Zeit, dass ich von hinten eigentlich jung aussähe – von vorne hingegen…. Altern ist nicht lustig. Dennoch: Fast alle möchten alt werden, ein immer grösserer Teil der Bevölkerung schafft es auch. Noch vor 20 Jahren kannte man zwar bereits die wachsenden Finanzierungslücken der Alterssicherung, man wusste allerdings herzlich wenig darüber, wie es den älteren Menschen geht. Materiell, gesundheitlich, sozial, und vor allem darüber, wie all dies zusammenhängt. Ob healthy, wealthy and wise oder krank, arm und vergesslich, die optimale Alterspolitik hängt eben nicht nur von den Finanzen ab, sondern auch von den Bedürfnissen der Empfänger.

Ebenfalls erstaunlich: die riesigen Unterschiede zwischen der älteren Bevölkerung in Europa. Und niemand wusste weshalb. Um die Jahrtausendwende änderte sich dies grundlegend: Forscher und Forscherinnen aus unterschiedlichen Europäischen Ländern unter der Leitung des Mannheimer Professors Axel Börsch-Supan und der Venezianischen Professorin Agar Brugiavini starteten die Initiative SHARE: Den Survey of Health, Ageing and Retirement in Europe. Ökonominnen, Soziologen, Psychologinnen, Fachleute aus Public Health und Medizin entwarfen eine Befragung, die sich an Menschen über 50 richtete. Zum ersten Mal wurden Fragen zur materiellen Situation und den sozialen Netzwerken der Interviewten gemeinsam gestellt mit Gesundheitsfragen, die weit über die – wie es ein Kollege formulierte – «How are you?»Frage hinausgingen. So gehört neben der Ermittlung von Krankheiten, Einschränkungen des täglichen Lebens und des BMI auch die Messung des Händedrucks und der kognitiven Fähigkeiten zur Umfrage. Neuerdings werden einem Teil der Befragten – falls sie einverstanden sind, natürlich, sogar Blutproben entnommen.

Ein Datenfundus aus 28 Ländern
Unter enormen logistischen und personellen Anstrengungen (fast 40 Sprachen) und grossen Kosten (getragen durch die EU und die beteiligten Länder) entstand in den letzten 10 Jahren ein faszinierender Paneldatensatz mit rund 240‘000 Interviews mit 120‘000 Befragten in 28 Ländern (inklusive der Schweiz). In der Zwischenzeit rollt bereits die 6. Welle, für die 7. Welle laufen Pre-Tests. Die Befragung wird kontinuierlich an neue Fragen und verfügbare Technologien angepasst. So war nach den ersten beiden Wellen klar, dass man gerne mehr über die Vergangenheit der Befragten gewusst hätte. Deshalb wurden in der 3. Welle die wichtigsten Ereignisse im Leben der Interviewten retrospektiv ermittelt. Eher unerwartet gaben die Menschen mit Freude Auskunft über die Ereignisse in der Vergangenheit, und die retrospektiven Informationen erwiesen sich für die Forschung als Glücksfall: Immerhin hatten viele der Befragten den 2. Weltkrieg erlebt, sind in den abgeschlossenen kommunistischen Ländern Osteuropas aufgewachsen, oder sind im Verlaufe der Jahre in ein anderes Land migriert.

Eine Datensammlung lebt nur durch die daraus entstandenen Erkenntnisse. Auch hier wurden die Erwartungen weit übertroffen, mehr als 5000 registrierte Forschende sorgen für tausende von Publikationen. Mit vielen interessanten Resultaten.

Vielfältige Unterschiede und erstaunliche Zusammenhänge
So sind die Unterschiede zwischen den europäischen Ländern deutlich vielfältiger als erwartet. Die Folklore der positiven Auswirkungen einer mediterranen Diät auf Gesundheit und subjektives Wohlbefinden hält den Daten nicht stand. Und während in Nordeuropa ein höherer materieller Wohlstand mit weniger Depressionen einhergeht, ist dieser Zusammenhang im Süden völlig unbekannt. Die riesigen Unterschiede in den Invalidenraten zwischen den Ländern lassen sich hingegen nicht durch die Gesundheit und Gebrechlichkeit der Individuen erklären. Die Studien zeigen deutlich: es sind die Anreize der jeweiligen Systeme. Andererseits verdrängt der Wohlfahrtstaat nicht – wie häufig erwartet – die Unterstützung kranker und gebrechlicher Menschen durch Familienmitglieder. Nordische Familien helfen einander einfach anders als südliche.

Dank Änderungen im institutionellen Umfeld der Länder, erlauben die Daten oft kausale Aussagen: So verringert eine grosszügige Mutterschaftsversicherung die Depressionsrate im Alter – also mindestens 30 Jahre später − um ganze 14%.

Mit retrospektiven Informationen können zudem sehr langfristige Auswirkungen von Ereignissen im Arbeitsleben und sogar in der Kindheit nachgewiesen werden. In einer viel beachteten Arbeit zeigten Forscher, dass die Repression am Arbeitsplatz in den früheren kommunistischen Ländern selbst nach der Wende für die Betroffenen tiefgreifende Konsequenzen hatte: Je stärker die Repression, desto schlechter waren später die Jobaussichten, desto grösser die Diskrimination und desto länger die Perioden von Stress.

Ironischerweise können mit den Alten alte Vermutungen zu Ausbildung und Förderung der Kinder bewiesen werden. Meine Lieblingsarbeit dazu: Wer im Alter von zehn Jahren zu Hause Bücher hatte, profitierte später deutlich mehr von Bildungsreformen – unter ansonsten gleichen Bedingungen.

Die Forschung hat nicht immer einen direkten Bezug zur Anwendung, einige Arbeiten sind etwas exotisch. Wer hätte gedacht, dass die Grammatik einer Sprache mit ökonomischen Entscheidungen zusammenhängt? Menschen mit einer Muttersprache, in denen Zukunftsform und Gegenwart grammatikalisch verbunden sind (Zum Beispiel im Deutsch: weil wir «morgen regnet es» sagen können), verhalten sich eher zukunftsorientiert: Sie sparen mehr, rauchen weniger, sind weniger übergewichtig und praktizieren sichereren Sex. Die Beziehung gilt nicht nur zwischen Ländern (dort könnte es ja noch andere Gründe haben), sondern auch innerhalb mehrsprachiger Länder.

Bevor jemand also die 1000. Arbeit schreibt, ob die Alterssicherung nachhaltig ist (nein), oder ob die Jungen übermässig belastet sind (ja), soll sie/er doch einen Blick werfen auf die Website von SHARE: share-project.org. Die Daten sind für die Forschung frei verfügbar, für Studierende gibt es zusätzlich eine vereinfachtere, einfacher zu bedienende Version. Glauben Sie mir: ein rauchender Kopf ist viel lustiger als ein knirschendes Knie.

One thought on “Altern ist (nicht) lustig

  1. „Menschen mit einer Muttersprache, in denen Zukunftsform und Gegenwart grammatikalisch verbunden sind (Zum Beispiel im Deutsch: weil wir «morgen regnet es» sagen können), verhalten sich eher zukunftsorientiert: Sie sparen mehr, rauchen weniger, sind weniger übergewichtig und praktizieren sichereren Sex.“ Die Ergebnisse dieser Studie werden von Guy Deutscher (through the language glass) sehr bezweifelt. Heute ist eher die Meinung vorherrschend, dass der liguistische Relativismus, also der Einfluss von Sprach- auf Denkstrukturen, zwar eine Rolle spielt (zum Beispiel bei den Farbenbezeichnungen und der Wahrnehmung von Farben), diese aber sehr begrenzt spezifisch ist. Beispiel Futur: Kann man wirklich gemeinsame Verhaltensmuster von Iranern, und Deutschen feststellen, die beide Präsensformen für das Futur verwenden können. Sind Iraner und Deutsche weniger übergewichtig als Engländer? Wie ist es denn mit den analytischen Futurformen im Spanischen, die ja eigentlich Gegenwartsformen sind? Führt der Wandel vom synthetischen zum analytischen Futur (cantaré zu voy a cantar) jetzt dazu, dass man in Paraguay mehr Kondome benutzt? Wie man sieht, ist das ganze ziemlich kontraintuitiv (und im übrigen auch mit einem ethnozentrischen Beigeschmack behaftet, wir Europäer wegen unserer Abstrakta so überlegen), weshalb die Thesen des Herrn Whorf nicht ganz zu Unrecht fast 40 Jahre lang in der Versenkung verschwunden waren und jetzt nur in sehr beschränkter Form wieder salonfähig sind.

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