Monika Bütler
Ein Mädchen aus der Nachbarschaft bemerkte vor einiger Zeit so beiläufig, dass sie ihrer Mutter „verboten“ hätte, an eine Gymi-Informationsveranstaltung zu gehen. Grund: Sie hatte Angst, als „bünzlige schweizerische Streberin“ verunglimpft zu werden.
Eine neue Studie zeigt nun, dass solche Ängste eine wichtige Rolle bei Bildungsentscheiden spielen. Wer sich anstrengt, riskiert, von den Kolleg(inn)en sozial abgestraft zu werden.
In ihrem Forschungspapier “How Does Peer Pressure Affect Educational Investments? beschreiben Leonardo Bursztyn (Anderson School of Management, LA, USA) und Robert Jensen (Wharton School, PA, USA) ein Experiment mit Schülern und Schülerinnen der 11. Klasse in den USA in zwei verschiedenen Leistungsniveaus: In „Honors“ Klassen sind die leistungsstärkeren Schüler(innen), in den non-Honors die anderen. Beiden Gruppen wurde ein kostenloser Vorbereitungskurs für den SAT Test angeboten. SAT ist ein standardisierter Test, der von Studienplatzbewerbern an (amerikanischen und gewissen internationalen) Universitäten gefordert wird.
Den Schülern wurden zwei Versionen der Anmeldung zufällig verteilt. In der einen Version stand explizit geschrieben, dass die Anmeldung geheim bleibt. In der anderen Version wurde darauf hingewiesen, dass die Anmeldung öffentlich ist. Resultat: Die Anmeldungshäufigkeit in den Honors Klassen hing nicht davon ab, ob die Anmeldung privat oder öffentlich war. In den non-Honors Klassen dagegen war die Anmeldungsrate 11 Prozentpunkte tiefer im Falle einer öffentlichen Anmeldung als bei einer geheimen Anmeldung.
Ein Teil des Unterschieds könnte allerdings davon rühren, dass in den Honors Klassen einfach die besseren Schüler sitzen. Die Entscheidung zur Weiterbildung würde dann nicht nur von Peer Effekten sondern auch von Selektionseffekten herrühren. Um dies auszuschliessen, verglichen die Forscher nun nur noch etwa gleich gute Schüler, also Schüler und Schülerinnen mit derselben Anzahl von Honors Klassen. (In den US High Schools ist es durchaus üblich, dass dieselben Schüler in einem Fach in einer Honors Klasse sitzen, in einem anderen Fach aber nicht).
Untersucht wurde nun, wie sehr das Verhalten ungefähr gleich guter Schüler davon abhing, ob sie am Testtag in einer Honors Klasse oder in einer nicht Honors Klasse sassen. Die Unterschiede waren noch grösser: Wurde der Gratiskurs in einer Non-Honors Klasse angeboten, war die Anmeldehäufigkeit bei öffentlicher Anmeldung 25 Prozentpunkte tiefer als bei einer privaten. In den Honors Klassen war dies genau umgekehrt, eine öffentlich bekannte Anmeldung erhöhte die Anmeldewahrscheinlichkeit um 25 Prozentpunkte.
Da in der zweiten Versuchsanordnung Leistungsunterschiede zwischen den Schülern ausgeschlossen wurden, lassen die Unterschiede in den Anmeldungszahlen auf Peer Effekte schliessen. Das heisst auf starke (leider oft negative) Beeinflussung durch Klassenkolleg(inn)en. In weniger leistungsstarken Klassen befürchteten Schüler(innen) sozial abgestraft zu werden, wenn sie sich für Bildungsangebote interessierten. Eine soziale Streberstrafe sozusagen.
Die Resultate dürften viele Eltern nicht überraschen. Mit der Bezeichnung Streber werden immer wieder Kinder „fertig gemacht“ und entweder ausgegrenzt oder vom Lernen abgehalten. Man sollte vielleicht die für Aussenstehende oft verbissen wirkenden Bemühungen gewisser Eltern, ihren Nachwuchs unbedingt zu einer gymnasialen oder Sek A Ausbildung zu bewegen, einmal in diesem Licht sehen. Sie tun dies vielleicht nicht immer aus Prestigegründen.
Das aufgeweckte und intelligente Nachbarsmädchen wird ihren Weg zweifellos machen. Nur: durch ihre offensichtliche Angst, ja nicht als Streberin aufzufallen, verbaut sie sich unter Umständen noch bessere Chancen. Ironischerweise ist das Nachbarsmädchen zwar durch und durch Schweizerin, hat wegen ihrer Vaters aber ein exotisches Aussehen. Und vielleicht dadurch noch mehr Angst, als Streberin zu gelten.
Ich habe selbst ein ähnliches Erlebnis. Meine beiden Söhne (inzwischen erwachsen) hatten grosse Hemmungen, Schulkollegen zu uns nach Hause zu bringen, obwohl wir sie immer wieder dazu ermunterten. Begründung: Wegen der vielen Bücher in unserem Haus würden sie dann als Streber ausgelacht.
Fazit: Die Schule vermittelt im entscheidenden Wertebereich nicht die Werte des Lehrplans oder der Lehrerschaft, sondern jene der Peer-Groups. Darum legen viele Eltern grossen Wert auf das Wohnquartier, das die Zuweisung zur öffentlichen Schule mitbestimmt und wären an einer freien Schulhauswahl interessiert, die noch wichtiger wäre als eine freie Wahl der Lehrperson. Ich bin aus diesem Grund auch ein Befürworter von Privatschulen oder Homeschooling und ich frage mich, warum sich nicht gleichgesinnte Eltern vermehrt zusammenschliessen. um ihre Kinder in ihrem „Sinn und Geist“ bilden zu lassen. Entscheidende Bereiche der Zukunftsbestimmung unserer eigenen Kinder sind eben kollektiviert! Natürlich gibt es noch einen Spielraum für bewusste innerfamiliäre Gegenakzente, auch bei egalitären Bildungsstrukturen. Wer es in der frühen Kindheit fertigbringt, seinen Kindern beizubringen „wir sind eben in manchen Dingen anders als die Mehrheit, und das ist gut so, das musst Du durchstehen“, gibt seinen Kindern ein grosses Geschenk mit auf den Weg. Angehörige von ethnischen und religiösen Minderheiten haben es immer wieder fertiggebracht, ihren Kindern ihr „Anders-Sein“ als Positivum zu vermitteln.
Ich sehe den Kommentar von Robert Nef kritisch. Ich formuliere es überspitzt: Wer seine Kinder „home-schult“ und ihnen dabei das Bewusstsein vermittelt, dass sie etwas Besseres sind und deshalb die Schulbank nicht gemeinsam mit dem Pöbel drücken müssen/dürfen, tut weder den Kindern noch der Gesellschaft einen Gefallen. Das gibt dann die Elitären, die meinen, sie seien etwas Besseres als die (meisten) Anderen, was selten der Wahrheit entspricht – vor allem in punkto Reflektiertheit und Toleranz.
Hingegen bin ich sehr dafür, dass Kinder darin gefördert werden, dem Gruppendruck zu widerstehen. Und das zu tun, was ihnen liegt und wofür sie echtes Interesse haben (kann durchaus auch etwas sein, was nicht unbedingt die erste Wahl der Eltern ist). Das ist aber in der Pubertät nicht immer einfach, wie alle Teenie-Eltern wissen. Zum Glück bietet unsere Bildungslandschaft viele Anschlüsse und Abzweigungen, so dass die meisten – und wenn es halt nach den schwierigen Selbstfindungsjahren ist – ihren Weg suchen und finden können. Dass dies möglich ist und dass unsere Jugendlichen es sich ohne schwerwiegende Konsequenzen für den weiteren Lebensweg leisten können, nicht immer und sofort das Maximum aus sich selbst herauszuholen, ist eine Folge unseres Wohlstands.
Hier wird wieder einmal von einer Korrelation auf eine Kausalität geschlossen. Das ist meiner Meinung nach nur zulässig, wenn weitere mögliche Ursachen entwickelt und ausgeschlossen werden.
Spontan kommt mir eine andere kausale Ursache in den Sinn: Die Non-Honors habe Erfahrung mit dem Scheitern und haben keine Lust auf noch mehr Scheitern. Wenn nun die Anmeldung öffentlich ist, dann ist auch die Kursteilnahme öffentlich und somit in der einen oder anderen Form das Scheitern hinterher.
Die Ursache hiesse demnach nicht, „Vermeidung von Streberstatus“ sondern „Vermeidung von öffentlichem Scheitern“. So wie die Daten hier dargestellt werden, kann deduktiv nicht auf die eine oder die andere Ursache geschlossen werden.
Noch etwas zum Streber: Bis Ende siebenter Klasse wurde ich oft als „Streber“ bezeichnet. Mir kam das komisch vor, weil ich meinte, ein Streber sei einer, der extra viel Aufgaben macht, um gute Noten zu haben. Ich selber habe immer neue Wege gefunden, noch weniger Aufgaben zu machen. Mir kam es eher so vor, dass die anderen schlicht keine Ahnung hatten, dass Intelligenz etwas ur-menschliches ist, was man nur geniessen muss und dann klappt es von selber. Ich auf der anderen Seite verstand schlicht nicht, warum der Lehrer denen alles dreimal erklären musste.
Unregelmässige Verben auf französisch konjugieren in das Heft schreiben, das nachher eingesammelt und unter Androhung von Strafaufgaben korrigiert wird? Neunuhrpause, 10 Minuten, fertigschnutz.
Die letzten anderthalb Jahre vor meiner Matur habe ich überhaupt keine Aufgaben mehr gemacht. Die letzten 12 Monate hindurch jede zwei Schulstunde unentschuldigt geswänzt (Ehrenwort). Zwischen der schriftlichen und mündlichen anstatt Büffeln Autostopp nach Paris. Ich hatte panisch Angst, dass ich durch die Matura durchfallen würde. Also bin ich eines Nachmittags ganz ruhig aufs Bett gesessen, habe mir die Situation in Ruhe vor den Augen passieren lassen. Mit büffeln anfangen drei Monate vor der Matur würde nichts mehr nützen. Ich beschoss demnach, dass Angst mir nicht weiterhilft und dass ich von dem Moment an keine Angst mehr habe. Vollkommen entspannt funktionierten mein Gedächtnis und Konzentration wie nie im Leben. Ich hatte den besten Notendurchschnitt von meiner Klasse.
An der Uni machte ich es dann anders. Ich lernte konsequent nie mehr für Prüfungen (ausser in der Biochemie und der Chemie, weil das wirklich vom Denken her fremd ist).
Ich arbeitete dennoch ungemein hart an meiner Ausbildung, besuchte Bibliotheken quer durch die Schweiz, flog in den Semesterferien ins Ausland, um dort die Professoren auszufragen. Ich lernte alles mit grossem Eifer, ausserhalb der Uni. Wenn ich in einer Buchhandlung zwei drei Seiten in einem Buch durchlas, wusste ich das auswendig und musste das Buch nie mehr zur Hand nehmen. So nebenher, mit den Brosamen, die neben dem Tisch zu Boden fallen machte ich immer noch eine fünf im Notendurchschnitt.
Dann erlitt ich in einem Autounfall eine Hirnverletzung und erstmals in meinem Leben musste ich hart arbeiten. Ich machte einen schrulligen Witz: Wenn ich einen viertel so schnell denke wie vor dem Unfall, dann denke ich immer noch schneller als 80% der Schweizer Bevölkerung. Also werde ich es zurück an die Uni schaffen.
And here I am, 20 years later.
Nein Herr Nef, ich finde nicht, die Kinder sollten in eine Privatschule. Sie sollen zu unserem Gemeinwesen dazugehören. Wenn Sie etwas für Ihre Kinder tun wollen, dann schaffen Sie ihnen einen Ausgleich, schauen Sie dass diese andernorts mit ihrem Können geschätzt werden, dass sie sich dort austoben können: Musikschule, Sportverein, Pfadi. Bei mir waren es die Pfadi und der Schwimmunterricht.