Urs Birchler
Kassandra erhielt von Apollo die Gabe der Weissagung, aber (weil sie sich von ihm nicht verführen liess) auch den Fluch, dass sie nie Gehör finden sollte. An sie habe ich bei der Lektüre der Meldungen von diesem Wochenende dreimal gedacht:
- Bundesanwalt Lauber fordert laut Presse eine „Superbehörde“, die früh vor Gefahren für den Finanzplatz warnen soll.
- Die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) warnt vor der Gefahr steigender Zinssätze, vor der miserablem Finanzlage der Staaten und vor den nach wie vor knappen Eigenmittelpolstern der Banken
- Schweizer Grossbanken haben gemäss Stabilitätsbericht der SNB Kapitalpolster gemessen an der Bilanz von 2,3 Prozent.
Wie hängen die drei Meldungen zusammen? Bundesanwalt Lauber möchte eine Warnerin, die endlich einmal Klartext spricht. Nur: Wenn jemand Klartext spricht (wie seinerzeit Hans Bär), hört niemand zu (ehrlich gesagt: bei Jean Ziegler hatte auch ich stets Ohropax griffbereit). Jene Instanz, denen die Banken von Gesetzes wegen zuhören müssen, die FINMA, darf keinen Klartext sprechen, sonst endet sie in Teufels Küche. Und dann gibt es die Halb-Kassandras wie die BIZ und die SNB, deren hervorragende und diplomatische Berichte man mit viel Respekt liest, dann aber beiseite legt in der Hoffnung, es komme schon nicht alles so schlimm. Schliesslich die Anti-Kassandras (sie gibt es auch unter den Ökonomen), die lieber im Glanze Apollos stehen, statt den Menschen erfolglos auf die Nerven zu gehen.
Eine Instanz, die gleichzeitig so eingebettet ist, dass sie Vertrauen geniesst, und so unabhängig (auch mental), dass sie drohendes Unheil kompromisslos benennt — die müssten wir uns erst verdienen.
Ich habe beim Ruf von BA Lauber nach einer Superbehörde an etwas ganz anderes gedacht. Nämlich an den verbreiteten Glauben, der Staat werde es schon richten. Dass Kontrollbehörden den Dingen immer hinterher rennen und noch die letzte Krise managen, ist bekannt. Eine neue Superbehörde würde daran nichts ändern, sondern einfach zusätzliche Kosten verursachen. Und würde sie mit weitreichenden Kompetenzen ausgestattet, hätten wir es rasch mit einem staatlich verwalteten Wirtschaftssektor zu tun. Hat sich das je bewährt?
Das ist auch richtig. Die EU ist das beste Beispiel, wie die Einrichtung immer neuer Behörden und Mechanismen alles nur verschlimmert. Gleichwohl hat Herr Lauber den Finger schon auf den wunden Punkt gelegt: Politik und Behörden haben verschiedentlich versagt — im nachhinein gesehen — und am Ende landen die Probleme bei den Gerichten.
Mir kommt da noch der Hofnarr in den Sinn. Dessen Wichtigkeit heute völlig verkannt wird. Von vielen belächelt durfte er doch dem König die Wahrheit sagen, hatte auch entsprechendes Gewicht und fand Gehör. Vielleicht funktioniert das Prinzip einfach ab einer gewissen Anzahl von Narren nicht mehr?
So ist es, so war es schon immer, und ganz besonders in unserem kleinen Land. „Anti-Kassandras, die lieber im Glanze Apollos stehen, statt den Menschen erfolglos auf die Nerven zu gehen.“ Auch unter Journalisten. Ausgerechnet.
Herzlichen Dank für die Zustimmung zu einem vielleicht etwas zu philosophischen Beitrag.
Wir alle sind es, die lange von unvollkommenen Verhältnissen profitiert und jedes Mal den Zeitpunkt für unsere persönliche Richtungsänderung verpasst haben. Ein Marktversagen hat etwas wundervoll Diffuses an sich: niemand fühlt sich wirklich verantwortlich und nichts eint so warm wie gemeinsames Jammern. Wie kalt und hart sind dagegen die Forderungen der Kassandras, einfach nur Spassbremsen. Den richtigen Zeitpunkt zu bestimmen, kann man so getrost den Wirtschaftshistorikern überlassen.