Monika Bütler
Weshalb Projektionen wichtig sind – auch wenn sie falsch sind
NZZ am Sonntag vom 2. Januar 2011
Yves Rossier, der Direktor des Bundesamts für Sozialversicherungen, ist viel schlanker geworden. So schien es mir jedenfalls, als ich ihn das letzte Mal traf. Er habe das Rauchen aufgegeben, meinte er, und zuerst innert zwei Wochen vier Kilo zugenommen. Seine Frau habe ihn dann aber gewarnt: In fünf Jahren wiegst Du mehr als eine halbe Tonne, wenn Du im gleichen Stil weitermachst. Diese Hochrechnung habe ihn zu einem radikalen Kurswechsel bewogen.
Frau Rossiers „Gewichtsprognose“ hat sich nicht bewahrheitet – genau sowenig wie viele düstere Prognosen in den Sozialversicherungen und den Staatsfinanzen. Mittel- und langfristige Projektionen werden daher oft als unwissenschaftlich abgetan. Zu pessimistische Prognosen würden gar die Sozialwerke gefährden. Dabei handelt es sich nicht einmal um richtige Prognosen.
„Echte“ Prognosen wie Wettervorhersagen oder Tsunamiwarnungen schätzen äussere Vorkommnisse voraus. Wir können das Wetter nicht ändern, uns aber immerhin mit einem Schirm wappnen wenn Regen angesagt ist. „Prognosen“ in Wirtschafts- und Sozialpolitik beziehen sich hingegen auf Ereignisse, die wir noch ändern können. Es sind daher lediglich Projektionen – Szenarien, die erst unter bestimmten Bedingungen eintreffen. Die Staatverschuldung oder die Finanzlage der Sozialversicherungen können wir beeinflussen. Was-geschieht-wenn-wir-nichts-ändern?-Projektionen helfen uns, die politische Trägheit zu überwinden und zu handeln.
Obwohl im nachhinein gesehen falsch, hat die prognostizierte halbe Tonne ihren Dienst getan. Solche Projektionen erlauben, die Konsequenzen des heutigen Verhaltens abzuschätzen. Wird darauf reagiert, tritt das befürchtete Szenario unter Umständen gar nicht ein. Die Nützlichkeit der Projektion liegt darin, dass sie paradoxerweise hilft, ihr eigenes Eintreten zu verhindern.
Yves Rossier dürfte die Zukunft der AHV mehr belasten als sein eigenes Gewicht. Pessimistische Szenarien der Vergangenheit dienen heute den Gegnern von Reformen als willkommener Vorwand, diese zu blockieren. Dass sich die Voraussagen über die Zukunft der AHV nicht immer bewahrheiteten, hat teils mit Unvorhersehbarem zu tun – aber eben auch damit, dass die Projektionen rechtzeitig zu Anpassungen führten. So wurde das Rentenalter der Frauen erhöht und ein zusätzliches Mehrwertsteuerprozent zur Finanzierung erhoben. Ohne diese Massnahmen fehlten der AHV heute jährlich mehrere Milliarden, und sie schriebe tatsächlich die damals projizierten roten Zahlen.
Auch den Kantonen und Gemeinden wird regelmässig vorgeworfen, zu pessimistisch zu prognostizieren. Doch vorsichtig zu budgetieren hat einen einfachen Grund. Fehler gegen oben und unten sind beim Geld einteilen nicht gleich schlimm. Ein unerwarteter Überschuss ist viel einfacher zu bewältigen als ein unerwarteter Fehlbetrag. Wenn ein zu optimistisches Budget teure Folgen hat, dürfen Projektionen gerne eine Prise „Zweckpessimismus“ enthalten.
Wer immer noch denkt, zu vorsichtige Projektionen seien schädlich, der sei an die Stresstests der europäischen Banken in der Finanzkrise erinnert. Mit Bravour bestanden selbst die irischen Banken noch diesen Sommer die vermeintlich konservativen Szenarien. Im Nachhinein wären die Iren und ganz Europa froh, die Projektionen wären pessimistischer gewesen und hätten eine frühere, weniger kostspielige Intervention ermöglicht.
Nicht die Schulden-Projektionen gefährden die Sozialwerke, sondern das Nicht- Reagieren auf die prognostizierten Entwicklungen. Wir sollten deshalb nicht über die Güte von Prognosen streiten, deren Eintreten wir verhindern wollen. Ob eine halbe Tonne oder zwei Zentner, ist einerlei. Entscheidend ist, die richtigen Massnahmen zu ergreifen: Weniger essen, weniger ausgeben. Den Staaten bleibt verwehrt, was Yves Rossier möglich ist: Das Rauchen wieder aufzunehmen.